Sie glauben an die Ehe, an Christus und moderne Propheten. Und sie leben ordentlich, weil sie “Heilige der Letzten Tage“ sind: Besuch bei den MORMONEN in Hamburg.

Irene Jung und Regina Müller (Text), Frederika (Fotos)

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imon Back (14) kennt sich in Glaubensdingen aus. "Kleine Dinge machen den Herrn glücklich", sagt er mit fester Stimme ins Mikrofon. "Zum Beispiel, wenn man einer alten Dame über die Straße hilft oder seine Familie ehrt. Dann habe ich ein schönes Gefühl in meinem Herzen." Es ist Sonntagmorgen, 9.15 Uhr, die Gemeinde der Mormonen in Langenhorn ist zum Gottesdienst mit Abendmahl versammelt.

Bruder Back steht in Schlips und Anzug vorn und hält seine Ansprache. "Ansprachen" und "Zeugnis ablegen" gehören zu einem mormonischen Gottesdienst. Jeder, der vom Gemeindebischof gebeten wird, spricht über sich und Gott - Männer und Frauen, Junge und Alte, Selbstsichere und Schüchterne. "Ich habe Gott einen Korb gegeben", bekennt etwa eine hörbar aufgeregte Schwester Petra. Im Dezember hatte sie sich noch nicht getraut, vor der Gemeinde zu sprechen. "Und dafür schäme ich mich sehr." Der Bischof nickt, die Gemeinde singt, eine Schwester begleitet an der Orgel. Später gehen junge Männer durch die Reihen mit Toastwürfeln und Paletten mit winzigen Wassergläschen, ein bisschen wie die Medizinreichung im Krankenhaus. Das Abendmahl.

Etwa 130 Leute sind zum Gottesdienst gekommen, darunter auffallend viele junge Ehepaare mit kindlichen Gesichtszügen, Säuglinge und Kleinkinder auf dem Schoß. Überalterung ist hier ein Fremdwort: Die Gründung einer Familie und viele Nachkommen stehen im Zentrum der Mormonen-Lehre.

Mormonen - der korrekte Name ist "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" - bekennen sich zu Christus und der Bibel, daneben aber zum "Buch Mormon" mit den Lehren des Religionsgründers Joseph Smith und seinen Offenbarungen für Nordamerika (siehe Kasten).

1842 kamen erstmals Mormonen nach Deutschland, 1852 auch nach Hamburg; damals noch ein verstreutes Dutzend, das sich in Privathäusern und Hinterzimmern traf. Viele wanderten wieder nach Amerika aus. Heute gibt es in Hamburg sechs Gemeinden mit 1000 bis 1200 Mitgliedern.

"Wir sind eine fröhliche Gemeinschaft", sagt Schwester Angela Diener. Alle kennen sich und wissen übereinander Bescheid - von Herzoperationen und Fehlgeburten bis zu Eheproblemen. Was verbindet, ist auch das Gebot einer sauberen und ordentlichen Lebensführung: Mormonen verzichten auf Alkohol, Tabak, Kaffee und sogar Tee, um sich rein zu halten. Aber sie feiern zusammen, zum Beispiel an Silvester im Gemeindesaal, machen Feriencamps im Sommer und gehen in Sportvereine.

Die Gemeindearbeit wird auf viele Schultern verteilt - ehrenamtlich, das gilt sogar für Bischof Ralf Timm. Zu vergeben sind unzählige Titel, Funktionen und "Berufungen". Schwester Petra etwa unterrichtet in der "PV" (Primärvereinigung Kinder). Kreativität sei nicht ihre Stärke, findet sie, aber "der Herr ist es, der mich in dieser Berufung haben mag." Heute zum Beispiel bringt sie den Kleinsten in der Sonntagsschule nahe, wie Gott die Tiere machte.

Dann tritt ein achtjähriger Steppke artig in Anzug und Weste nach vorn und trägt in einem Referat vor, wie man Fehler wieder gutmachen kann. Zum Beispiel wenn man gelogen hat. Oder wenn man am Sonntag Fußball gespielt hat (wo doch der Sonntag für den Vater im Himmel da ist).

Auch die älteren Jugendlichen sitzen geduldig in der Sonntagsschule. Heutiges Generalthema: die Schöpfung. Der Lehrer, auch ein "berufenes" Gemeindemitglied, wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Evolution und Gotteswerk. "Gott hat die Tiere in die Welt gesetzt", sagt er, "und dann hat die Evolution weitergemacht."

Die Mormonen glauben, dass die Seelen eine vorirdische, irdische und nachirdische Existenz haben. Die Welt ist als eine Art Laboratorium geschaffen worden, um zu prüfen, ob die Menschen auch unter irdischen Bedingungen Gottes Gebote befolgen. Ob sie anderen in Nächstenliebe dienen und ein Leben ohne Laster führen, im Verzicht auf Genussmittel und Sex vor oder außerhalb der Ehe. Ehebrecher werden von der Kirche ausgeschlossen.

Da wirkt es geradezu bizarr, dass den Mormonen der Vorwurf "Vielweiberei" anhaftet wie Kompaktkleber. Die Polygamie gab es nur im 19. Jahrhundert, als in der tiefsten amerikanischen Provinz Männermangel herrschte. Die Vielehe sollte sicherstellen, dass genügend neue Mormonen auf die Welt kamen. Heute kommt sie nur in entlegenen US-Provinzen bei einigen Gruppen vor, die der Kirche nicht mehr angehören. "Bei den Brüdern in Westeuropa hat die Polygamie nie eine Rolle gespielt", sagt Frank Diener. "Das war alles ganz sauber", ergänzt seine Mutter. Die Einehe wird als "grundsätzlich richtige Lebensweise" verkündet, sogar als Pflicht.

"Siegelung" heißt die religiösen Eheschließung, die Partner werden aneinander gesiegelt. Das kann nur in einem Tempel stattfinden, in Deutschland gibt es zwei: im sächsischen Freiberg und in Frankfurt/Main. Nur Mormonen dürfen einen Tempel betreten. Und auch nur solche mit einem "Ausweis der Würdigkeit", den der Bischof nach einem Prüfungsgespräch ausstellt, für ein Jahr.

Es gibt Scheidungen - "wenn Leute todunglücklich miteinander sind, wird die Siegelung aufgelöst", sagt Bischof Ralf Timm, der mit gefährdeten Mitgliedern eindringliche Gespräche führen muss: "Wir versuchen natürlich in erster Linie, die Ehe zu retten." Denn nach mormonischer Lehre bestehen Ehe und Familie über das Grab hinaus. Der Mann ist Familienoberhaupt, die Frau ist Erzieherin der Kinder - eine adrette, grundgute Ordnung. Die Familie als Basis der Gesellschaft im Dies- und im Jenseits.

Wegen ihrer Vorstellung vom Zusammenhalt auch im Jenseits suchen Mormomen ständig nach ihren Vorfahren. Die Kirche hat in Utah das weltweit größte genealogische Archiv auf Mikrofilmen. Insgesamt verfügt sie über zwei Milliarden Namen. Die Mitglieder suchen Blutsverwandte, Familienzweige und Auswanderer. Finden sie Vorväter irgendwo auf der Welt, können sie sich stellvertretend für diese postum taufen lassen. "Dann haben unsere Vorfahren - die ja vor 1829 von den Mormonen gar nichts wissen konnten - die Chance, mit uns im ewigen Bund vereint zu werden", sagt Monika Maichel, die Presse-Verantwortliche.

Solche Glaubensinhalte haben Schwester Birgit Timm, Arzthelferin, dazu veranlasst, Mitglied bei den Mormonen zu werden. "Ich war aus der evangelischen Kirche ausgetreten, aber ich suchte nach der Geburt unseres ersten Kindes eine Gemeinde", erzählt sie. "Ich habe mehrere Kirchen geprüft. Zum Beispiel habe ich nie verstanden, warum Babys, die ungetauft sterben, in die Hölle kommen, wie es ein katholischer Priester behauptet hat. Oder warum Gott heute nicht mehr durch Propheten zu den Menschen sprechen soll." Bei den Mormonen fand sie Antworten, die sie befriedigten. Ihr Mann Ralf, gelernter Lokführer, wollte anfangs nichts damit zu tun haben - zwei Jahre später ließ auch er sich taufen.

Jetzt ist er in Langenhorn frischgebackener Bischof. Und nach der Pensionierung, sagt seine Frau, "wollen wir zusammen auf Mission gehen". Mission ist ein Lebenspfeiler: Nach dem Schulabschluss gehen die meisten jungen Mitglieder auf eigene Kosten zwei Jahre "auf Mission", dorthin, wo die Kirche sie haben will. 60 000 sind zurzeit weltweit im Einsatz. Frank Diener wäre gern nach Amerika gegangen, stattdessen verteilte er 1990 in Berlin, Frankfurt/Oder und Eberswalde Werbeprospekte und bot wildfremden Leuten auf der Straße seine Hilfe an. "Wir schenken zwei Jahre der Kirche", sagt er.

Und mehr als das: Die Mormonen nehmen "den ehrlichen Zehnten" in der Bibel wörtlich. Zehn Prozent ihres Bruttoeinkommens, so wird erwartet, sollen sie pro Monat freiwillig der Kirche geben. Und einmal im Monat fasten sie, das Geld für die eingesparten Mahlzeiten wird als "Fastopfer" Bedürftigen gespendet.

Zehn Prozent, das ist viel. Aber Gott, findet Monika Maichel, ist ja auch nicht knauserig mit seinen Segnungen, zum Beispiel vier Kindern, einem gläubigen Mann und einem Job.

Natürlich gibt es auch das Böse. In einem Zimmer des Gemeindehauses belehrt eine Schwester vier Mädchen, zwölf bis 16 Jahre alt, über das Thema "Eigenschaften des Vaters im Himmel". "Er hilft uns immer, das Gute vom Bösen zu unterscheiden", sagt sie, "das habe ich schon so oft erlebt." Ist das wirklich so einfach in dieser Welt? Im "Buch Mormon" gibt es Beispiele für alles, auch für sehr schwierige Konflikte, antwortet die Lehrerin. Ein Mädchen erwähnt "Satan". Wer ist das? Luzifer, erzählt es, wurde für sein Machtstreben aus dem Himmel geworfen und umgab sich mit Dämonen. Die können einen Menschen irreleiten.

"Aber wie schön wird es sein", freut sich Bruder M., "wenn wir vor Gott stehen und wissen, das wir Zeit unseres Lebens das Richtige getan haben."

Überalterung ist hier ein Fremd- wort: Die Gründung einer Familie mit möglichst vielen Nachkommen steht im Zentrum der Lehre.

"Siegelung" heißt die reli- giöse Eheschlie- ßung: die Partner werden aneinan- der gesiegelt. Das kann nur in einem Tempel stattfinden.