Günther Hörbst

Bremen

Noch während Dirk Siemering sich zu dem etwa ein Meter langen blauen Plastiksack herunterbückt, der im laubbedeckten Boden des Pastorenwäldchens von Weyhe bei Bremen liegt, wird ihm eine böse Ahnung zur Gewissheit: Das ist Adelina. Und sie ist tot.

Bis zuletzt hat der Ermittlungsleiter der Sonderkommission (Soko) "Adelina" die Hoffnung nicht aufgegeben, das seit dem 28. Juni 2001 verschwundene zehnjährige Mädchen lebend zu finden. Doch dann kommt der Anruf einer Frau, die diesen sonnigen 7. Oktober zum Pilzesammeln in dem Wäldchen nutzen will. Siemering eilt zum Fundort. Es bietet sich ihm ein grausiger Anblick: Von dem Mädchen mit den niedlichen Pippi-Langstrumpf-Zöpfchen blieben nur der Schädel, die Knochen und eine schleimige Masse übrig. Der schwarze Rock, den sie trug, fehlt.

"Wenn man diesen kümmerlichen Rest in dem Sack sieht", erinnert der 50-Jährige sich, "passiert was in einem." Seit diesem Sonntag im Oktober vergangenen Jahres suchen Siemering und seine 14 Soko-Kollegen deshalb mit aller Macht nach Adelinas Mörder. Einem perversen Sextäter, wie es aussieht. Denn im Umkreis von 15 Meter um die Leiche fanden die Kriminalisten fünf Badeanzüge, eine Umstandsmiederhose, einen Body, drei Strumpfhosen - im Boden verscharrt.

Die Frauenkleider, die Leiche, der Fundort: Die Kripo sieht Zusammenhänge. "Der Täter", sagt Siemering, "könnte ein so genannter transvestitischer Fetischist sein. Das sind Männer, die sich Frauenkleider anziehen, um sich sexuell zu erregen. Nach der Befriedigung ziehen sie die Kleidung aber schnell wieder aus." Und legen sie an einem Ort ab, der für sie rituelle Bedeutung hat. Im Fall Adelina das Pastorenwäldchen?

Eine von vielen offenen Fragen. Die Bremer Polizei steht auf der Suche nach Adelinas Mörder vor einer Reihe von Rätseln. Wenn der Täter - ein Mann im normalen Alter, Besitzer eines Autos und weitgehend unauffällig - einen besonderen Bezug zum Pastorenwäldchen hat: Weshalb hat ihn und seine perversen Machenschaften keiner bemerkt? Schließlich gehen dort viele Menschen spazieren, nur wenige hundert Meter entfernt liegt ein Hundeabrichteplatz.

Die Soko geht davon aus, dass der Täter im Bremer Stadtteil Kattenturm und Umgebung gelebt hat, sich höchstwahrscheinlich immer noch dort aufhält. Kann es sein, dass ein Mensch mit solchen Neigungen noch nie aufgefallen ist? "Wir wollen", erklärt Siemering, "dass die Leute sich genau erinnern: Hat jemand beobachtet, wie Badeanzüge von der Wäscheleine gestohlen wurden, oder wie ein Mann sich daran zu schaffen machte?"

Eine der Fragen, die möglichst bald eine Antwort benötigen. Denn die Zeit drängt. Die kriminalistische Erfahrung lehrt, dass solche Täter wieder morden könnten. "Er hat seine Unschuld im Töten verloren", sagt Siemering. "Das macht ihn unberechenbarer." Nicht zuletzt deshalb wandte die Soko sich am Freitagabend in der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY . . . ungelöst" an die Öffentlichkeit. "Wir wollen den Druck erhöhen", sagt der Ermittlungsleiter.

Doch noch haben die Fahnder wenig in der Hand, um den Sexualverbrecher zu fassen. Keine der 1250 Spuren war die entscheidende, heiße. Vieles in dem Fall ist rätselhaft, einiges seltsam.

Die Leiche beispielsweise. "Ich habe in meinen 25 Jahren bei der Polizei mehr als tausend Leichen gesehen", sagt Siemering, "jedoch keine wie diese." Die Knochen waren vollständig abgelöst, wie ausgekocht. Haut, Muskeln, Organe hatten sich zu einem weißlich-bräunlichen Brei zersetzt. Identifiziert wurde Adelina per DNA-Nachweis. "Der Zustand der Leiche ist außergewöhnlich. Selbst Obduktionsexperten wissen nicht, wie er zustande kam."

Sicher ist, dass keine Zusätze verwendet wurden, die die Leiche zersetzen halfen. Sicher ist auch, dass sie bei Tageslicht und zwischen 30 Minuten und einer Stunde nach dem Mord in den blauen Plastiksack gelegt wurde. Das konnten Maden-Experten der Hamburger Gerichtsmedizin nachweisen. Derzeit lässt die Soko Versuche durchführen, wie der ungewöhnliche Verwesungsprozess möglich gewesen sein kann. Und beim Bundeskriminalamt werden gerade Haare, die in den Überresten gefunden wurden, mit neuen Methoden der Gentechnik untersucht.

Unzweifelhaft ist: Der Fundort ist nicht der Tatort. Das wirft weitere Fragen auf: "Weshalb hat der Täter sich die Mühe gemacht, die Leiche über Feldwege zum Pastorenwäldchen zu fahren? Wieso hat er Adelina nicht einfach in den nächsten Graben befördert?"

Dirk Siemering ist überzeugt, dass der sexuelle Missbrauch und der Mord an Adelina unmittelbar nach der Entführung am Nachmittag des 28. Juni 2001 stattgefunden haben. Die Zehnjährige verließ an diesem regnerischen Tag gegen 17.40 Uhr die Wohnung ihres Urgroßvaters im 11. Stock eines Wohnkomplexes in der Theodor-Billroth-Straße. Sie holte dort einen Jutebeutel mit Lebensmitteln für ihre Familie ab. Der Beutel ist verschwunden.

"Der Täter muss sie noch im Haus oder beim Verlassen des Hauses angesprochen haben", skizziert Siemering ein Szenario. "Er muss mit Kindern umgehen können, denn nichts deutet darauf hin, dass Adelina sich gewehrt hat. Dann hat er sie wahrscheinlich in sein Auto gelockt ."

Der perverse Sexmörder von Bremen scheint im Moment im Vorteil zu sein. Die Polizei tappt weitgehend im Dunkeln. Noch. Denn Ermittlungsleiter Siemering ist sich einer Sache sehr sicher: "Den kriegen wir."