Lutz Wendler
Hamburg
Eine der frühesten Erinnerungen, die Heiko Tessmann an seinen Großvater väterlicherseits hat, ist die an eine Uniform. Seine norddeutsche Oma, die der Junge aus Pforzheim in den Sommerferien besuchte, hatte Hose und Jacke ausgebürstet und zum Lüften rausgehängt. Der Großvater war damals schon seit mehr als 20 Jahren tot.
Über den Menschen, der diese Uniform getragen hatte, wurde in der Familie kaum geredet. Erst 1982, als Heiko Tessmann den Wehrdienst verweigern wollte, erfuhr er mehr über seinen Opa Willi Tessmann. "Meine Eltern rieten mir, mich bei der Verweigerung auf ihn zu berufen." Heiko Tessmann erhielt zur Vorbereitung das Vermächtnis seines Großvaters: Zeugnisse, amtliche Anträge und Urkunden, Papiere über seinen Berufsweg, Kassiber von ihm, die aus der Haft herausgeschmuggelt worden waren, und den letzten Brief, den er vor seiner Hinrichtung an die Familie geschrieben hatte. Die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wurde problemlos anerkannt. Die Vita des Opas ließ keine Zweifel an der Begründung des Enkels.
Willi Bernhard Karl Tessmann war rund zwei Jahre lang bis zum Kriegsende Kommandant des Gestapogefängnisses Fuhlsbüttel. Am 25. September 1947 wurde er von einem britischen Militärgericht in Hamburg als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt. Vollstreckt wurde das Urteil am 29. Januar 1948 im Zuchthaus Hameln durch Erhängen.
Sein Enkel bekam durch die Papiere Einblicke in das Leben eines Mannes, der ihm fremd blieb, aber zugleich ein beunruhigender Teil seiner eigenen Geschichte war. Nachfragen in der Familie waren wenig ergiebig. Die Großmutter und die beiden älteren Brüder seines Vaters waren schon tot, die anderen konnten oder wollten nichts erzählen.
Zwei einschneidende Ereignisse führten schließlich dazu, dass Heiko Tessmann die Nachforschungen über den Großvater intensivierte. 1991 starb sein Vater mit 51 Jahren an Krebs. "Ich habe gemerkt, wie ihn bis zuletzt die Frage nach der Schuld seines Vaters gequält hat", erzählt Heiko Tessmann. "Doch erst als mein Sohn Marvin 1999 geboren wurde, habe ich erkannt, dass ich selbst nach Antworten suchen muss, die ich an ihn weitergeben kann."
Heiko Tessmann nahm Kontakt zu Opferverbänden auf und wandte sich an die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Er reiste nach Hamburg, sammelte Informationen und überließ der Gedenkstätte das Vermächtnis seines Großvaters. Was folgte, war eine mehr als persönliche Aufarbeitung: Willi Tessmann wurde am 15. Januar 1908 als Sohn eines Kutschers in Hamburg geboren. Nach der achtjährigen Volksschule folgte von 1922 bis 1925 eine Lehre als Gärtner, die er mit einer schwachen Gesellenprüfung abschloss. Etwa zu dieser Zeit engagierte er sich politisch im Jungdeutschen Orden, verließ ihn aber schon bald, weil er ihn für "marxistisch unterwandert" hielt. Bis zum 30. September 1933 arbeitete Tessmann in verschiedenen Anstellungen als Gärtner. Sein letzter Arbeitgeber war ein Betrieb in Rahlstedt, der ihn aus wirtschaftlichen Gründen entlassen musste. Im Zeugnis heißt es: "Ich habe Herrn Tessmann als einen äußerst pflichtbewussten und ehrlichen Menschen kennen gelernt, den ich jederzeit und allerorts nur bestens empfehlen kann."
Der pflichtbewusste junge Mann, der 1932 der NSDAP und der SS beigetreten war, blieb nicht lange arbeitslos. Im Februar 1934 kam er auf Vermittlung seines späteren Schwiegervaters, der Mitglied der Schutzpolizei war, als Wachmann nach Fuhlsbüttel. Die Strafanstalt war von den Nazis in ein Konzentrationslager umgewandelt worden, wo nach der Machtübernahme zunächst politische Gegner in Schutzhaft genommen wurden. Das hieß: Sie waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Hier wurde geschlagen, gefoltert und gemordet. Mehr als 100 Häftlinge kamen zwischen 1933 und 1945 in Fuhlsbüttel, das nach 1936 Gestapogefängnis war, zu Tode, meist nach schweren Misshandlungen.
Willi Tessmann machte in diesem Terror-Apparat Karriere. Er hatte sich, wie sein Enkel sagt, 1934 bewusst für den Eintritt in dieses Unrechtssystem entschieden. Schon im ersten Jahr wurde er Bereitschaftsführer und durfte im Notfall den Kommandanten vertreten. Von 1937 an arbeitete Willi Tessmann drei Jahre lang als Fernschreiber für eine andere Dienststelle der Gestapo, bis der Fuhlsbüttel-Kommandant Johannes Rohde ihn wieder anforderte. "Auf Drängen und Bitten von Rohde bewarb ich mich dann um Einberufung als Polizei-Gefängnis-Oberwachtmeister auf Probe, weil der Obersturmführer diese neu errichtete Beamtenlaufbahn als aussichtsreich schilderte und mich auch gern wiederhaben wollte", erinnerte sich Willi Tessmann in einer späteren Vernehmung. Er wurde Rohdes Stellvertreter und im November 1943 sein Nachfolger als Gefängnislagerverwalter, sprich Kommandant von Fuhlsbüttel.
Parallel dazu hatte sich die Großfamilie Tessmann entwickelt. Im März 1935 wurde Willi Tessmanns spätere Frau erstmals schwanger: Der SS-Mann beantragte per Einschreibebrief ans Rasse- und Siedlungshauptamt die Verlobungsgenehmigung. Das Paar konnte eine rassereine Ahnentafel bis 1715 nachweisen, die notwendige Untersuchung der Ehefrau in spe war zufriedenstellend, so dass Tessmann und Braut attestiert wurden, dass die Fortpflanzung im völkischen Sinne wünschenswert sei. Bis 1945 bekamen die Tessmanns sechs Söhne und eine Tochter, die 1943 an Diphterie im Krankenhaus in Rothenburgsort starb. Die Eltern Tessmann erzählten ihren Söhnen, dass die Schwester bei einem britischen Bombenangriff ums Leben gekommen sei. Eine von Heiko Tessmann widerlegte Familienlegende, die nicht allein durch den Hass auf "die Tommys" - wie die Großmutter bis zuletzt voller Abscheu sagte - zu erklären ist.
Fotos von Willi Tessmann zeigen einen stolzen Uniformträger. Meist im Kreise von SS-Leuten, die pathetisch erstarren, während sie sich als verschworene Gemeinschaft inszenieren. Die Gesichter sind einfältig, aber entschlossen. Meist sind Waffen im Vordergrund, das Bewusstsein der Macht wird zelebriert.
Andere Bilder liefern die Opfer von Fuhlsbüttel in ihren Zeugenaussagen. Sie berichten von Verhören, bei denen stets gefoltert wurde. Von schweren Schlägen. Von wochenlanger Einzelhaft, die Willi Tessmann angeordnet habe. Davon, dass er Häftlinge in Eisen legen ließ, manchen das Essen über längere Zeiträume stark rationiert hat, anderen im Winter Kleidung und Decken hat nehmen lassen. Spitzeldienste soll er gefördert haben und die Informationen an die Gestapo weitergegeben haben.
Im Prozess, der 1947 im Curio-Haus stattfand, gab es drei Anklagepunkte gegen Willi Tessmann: die schlechte Behandlung von alliierten Gefangenen mit Todesfolge, die Exekution von elf Polen, bei der er anwesend war, der Befehl zur Erschießung von Gefangenen, die nach der Räumung von Fuhlsbüttel auf dem Marsch ins Arbeitserziehungslager Nordmark bei Kiel aufgaben oder zu fliehen versuchten.
Die Verteidigung von Tessmann war erschreckend naiv. "Wenn ich dem einen oder anderen Gefangenen Backpfeifen gegeben habe, was insgesamt nur sehr wenig vorkam, so hat es sich jedesmal um Häftlinge gehandelt, die sich in recht unpassender Form an ihren Mitgefangenen vergangen hatten, indem sie diese bestahlen", sagte er beispielsweise. Eines seiner Geständnisse betraf den Transport von fünf Russinnen zu einer öffentlichen Erschießung: "Man sagte mir, dass diese Frauen zum Tode verurteilt waren, und ich nahm an, dass es eine ordnungsgemäße Sache wäre, besonders da andere Russinnen diesen Erschießungen beiwohnen mussten."
Willi Tessmann stellte sich als ein gehorsamer Befehlsempfänger dar. Genützt hat es dem Gärtner, der im Terrorsystem Karriere gemacht hat, nichts. Im Gegenteil: Der willfährige Erfüllungsgehilfe wurde zum Tode verurteilt. Wohingegen Haupttäter wie der Höhere SS- und Polizeiführer Graf von Bassewitz-Behr, der Ex-Fuhlsbüttel-Kommandant Willi Dusenschön, Gestapochef Bruno Streckenbach oder Gauleiter Karl Kaufmann nie für ihre Verantwortung oder Beteiligung an den Verbrechen in Fuhlsbüttel bestraft wurden. Übrigens konnte Willi Tessmann die alten Seilschaften noch nutzen, als er zwischen 1945 und 1947 im britischen Internierungslager Neuengamme auf seinen Prozess wartete: In Kassibern, die er herausschmuggeln ließ, riet er seiner Frau, nichts über den Nationalsozialismus zu erzählen, auch nicht gegenüber den Söhnen, um ihn nicht zu gefährden.
Nach der Hinrichtung musste auch Willi Tessmanns Familie büßen. Die Witwe und ihre sechs Söhne wurden zusammen mit einer vierköpfigen Familie in einer knapp 60 Quadratmeter großen Baracke zwangseinquartiert. Ein Sohn musste zu Verwandten gegeben werden. "In den Schulakten meines Vaters war vermerkt, dass sein Vater als Kriegsverbrecher hingerichtet worden war", erzählt Heiko Tessmann. "Als mein Vater beim Kartoffelklauen erwischt wurde, kam er für sechs Jahre in ein Erziehungsheim - das alles hat sein Leben geprägt."
Heiko Tessmann hat an seinem eigenen Vater erfahren, welche Folgen die Bestrafung der Familie Willi Tessmanns hatte. Seine Recherchen über den Großvater sind der Umweg, der ihn zum besseren Verständnis seines Vaters führt. Heiko Tessmann fordert im Schlusswort seiner CD: "Jeder sollte sich fragen, ob er die eigene Geschichte kennt und begriffen hat. Das ist der Schlüssel zu einer besseren Zukunft."