Vor 90 Jahren starb Joseph Pulitzer, einer der berühmtesten Journalisten Amerikas. Heute ist derPulitzer-Preis, den er gestiftet hat, ein Gütezeichen für engagierten Journalismus - aber auch für gute Cartoons, Sachbücher, Theaterstücke und sogar Musik.

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ALEXANDRA zu KNYPHAUSEN

Es war einer dieser schönen, warmen Tage in Südfrankreich, und Joseph Pulitzer saß im Fonds seines Automobils. Er war 63 Jahre alt, blind und voller Neugier. Neben ihm Alleyne Ireland, der sein Sekretär werden und seine Augen ersetzen sollte.

"Schauen Sie aus dem Fenster und schildern Sie mir, was Sie sehen", forderte Pulitzer. "Versuchen Sie, mir von allem eine Vorstellung zu vermitteln - von allem; halten Sie nichts für zu gering, als dass es mich interessieren könnte; beschreiben Sie jede Wolke, jeden Schatten, jeden Baum, jedes Haus, jedes Kleid, jede Runzel in einem Gesicht, alles, alles!"

Genauigkeit war es, was Pulitzer erwartete, auch in seinen Zeitungen: "Ihre Hauptaufgabe ist die Weitergabe von Nachrichten; und zwar in Konzentration und vor allem in Richtigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit".

Um diese Grundsätze geht es, wenn sich die Erwartung der schreibenden Zunft Amerikas ins fast Unermessliche steigert: alljährlich im April. Denn dann ist Pulitzer-Day, und Journalisten, Dramatiker und Buchautoren hoffen auf Amerikas wichtigste Auszeichnung für herausragende Leistungen - den Pulitzer-Preis.

In 21 Sparten wird er vergeben, darunter Reportagen, Kommentare, In- und Auslandsberichterstattung, Drama, Bio- oder Autobiografie, Lyrik, Sachbuch, Fotos und Musik. Außerdem stiftete Pulitzer die New Yorker "School of Journalism", eine der renommiertesten Journalistenschulen Amerikas, die auch die Jury für den Preis stellt.

Wer einen erhält, hat normalerweise ausgesorgt. Geld? Kaum der Rede wert. Man erhält gerade mal 7000 Dollar. Nein, der Preis ist eher ein Ritterschlag: Er bedeutet Ruhm, Karriere, Aufstieg und Steigerung des Marktwertes; eine Auszeichnung für harte Recherche. Und er ist ein Gütezeichen für das Image, das die amerikanische Presse hochhält: Enthüllungs- statt Scheckbuchjournalismus und Hofberichterstattung.

Pulitzer, ein gebürtiger Ungar, war selbst ein begabter Journalist. Seine Geschichte liest sich wie eine klassische amerikanische Selfmade-Karriere: Mit Intelligenz, Ehrgeiz, Talent und erheblichem Geschäftssinn wurde er eine der bedeutendsten Journalistenpersönlichkeiten des Landes. Dagegen war seine körperliche Konstitution eher schwach.

1864 war der Sohn eines wohlhabenden jüdischen Getreidehändlers und einer katholischen Deutschen als 17-Jähriger in London aufgetaucht und hatte versucht, bei der britischen Armee unterzukommen. Er wurde abgelehnt und reiste weiter nach Hamburg, wo er sich für die Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg anheuern ließ. Danach ging er in zerrissener Uniform und mit 13 Dollar in der Tasche nach New York, wo man ihn bald aus dem Hotel warf. Das nahm er übel. Später kaufte er das Hotel und ließ es abreißen.

Mit Hilfsarbeiten schlug er sich durch, und als er in St. Louis einem betrügerischen Arbeitsvermittler in die Hände fiel, schrieb er darüber. Carl Schulz, dem Chefredakteur der deutschsprachigen Tageszeitung "Westliche Post", gefiel die Geschichte so gut, dass er ihn als Reporter einstellte. Schnell formte sich Pulitzers Devise "Politische und moralische Reform durch Sensation".

Mit 24 war er Mitbesitzer der Zeitung, mittlerweile ein hagerer, erfolgreicher Reporter mit flatterndem schwarzen Haar, rötlichem Bart und schmetternder Stimme. Bald kaufte er für 2500 Dollar den "St. Louis Dispatch" und eine weitere Zeitung, die halb bankrott war. Aus beiden baute er die einflussreiche "St. Louis Post Dispatch" auf. Der Kurs war engagiert-kämpferisch, und Pulitzer schrieb: "Die Presse mag ausschweifend sein. Aber sie ist das moralischste Werkzeug der Welt von heute. Durch die Furcht vor der Presse werden mehr Verbrechen, Korruption und Unmoral verhindert als durch das Gesetz."

Sein Wahlspruch "Für Fortschritt und Reformen - gegen Armut, Korruption und Ungerechtigkeit" ließ sich allerdings nicht so sehr zu Geld machen wie Verbrechen, Affären, Skandale und Sensationen. Sein Stil war frech und aggressiv, kombiniert mit dem von ihm erfundenen "seid nett zueinander". Die Betonung des Miteinanders übernahmen später auch andere, zum Beispiel der Verleger Axel Springer für das Hamburger Abendblatt.

Pulitzers Reporter machten vor Geheimdokumenten und fremden Schubladen nicht Halt. So geriet sein Profitstreben streckenweise in Widerspruch zu seinen journalistischen Idealen. Das hatte Folgen: Er ging nie mehr ohne Pistole aus dem Haus und war antisemitischen Attacken ausgesetzt. Allerdings hielt er sich bei seinem investigativen Journalismus streng an die Regel: "Kein Angriff ohne unerschütterliche Beweise."

Das war der Anfang der Karriere Pulitzers. Schon bald danach ging er nach New York und wurde mit seiner "New York World", die für einen Cent zu haben war und die ersten Zeitungs-Comics enthielt, in kurzer Zeit zu einem der maßgeblichen Männer der öffentlichen Meinungsbildung. Nach vier Jahren hatte die Zeitung mit einer Auflage von 200 000 Exemplaren die Konkurrenten überholt. Auch seine New Yorker "Evening World" wurde ein Erfolg.

Er und der Pressemagnat William Randolph Hearst, Besitzer des "Journal", setzten Maßstäbe. Sie berichteten über Verbrechen, erfanden fette Schlagzeilen, verteidigten die Interessen des kleinen Mannes und prangerten Korruption an. Einmal wurde Pulitzer sogar wegen Beleidigung des Präsidenten Roosevelt angeklagt. Und schließlich wurde die beliebte Comic-Figur "The Yellow Kid" Namensgeber für diese Art von Boulevard-Journalismus: Die "Yellow Press" war geboren.

Der wachsende Konkurrenzdruck unter den Zeitungen förderte allerdings allmählich einen hemmungslosen Sensationsjournalismus, dessen Methoden sich mit den Ansprüchen des heutigen Pulitzer-Preises schwer vereinbaren lassen würden. Ohne journalistisches Verantwortungsbewusstsein wurde um Auflagen gekämpft. Vielen Lesern in New York gefiel das nicht, und diese Gegenbewegung schlug sich in der "New York Times" nieder.

1887 erblindete Joseph Pulitzer. Sein aufreibender Einsatz hatte Folgen: Netzhautablösung, die selbst die besten Ärzte in Europa nicht beheben konnten. 1895 versuchte er - inzwischen auch zuckerkrank - noch einmal, seinen schärfsten Konkurrenten Hearst auszubooten. Er machte die "New York World" wieder zur besten liberaldemokratischen Zeitung.

Ein kleiner Mitarbeiterstab gab von der Motoryacht "Liberty" aus seine Anweisungen an die Redaktionen weiter und wurde Pulitzers Verbindung zur Außenwelt. Mehr und mehr erkannte er, auf den Blick nach innen und auf das Gehörte angewiesen, die Bedeutung der differenzierten, ins Detail gehenden Berichterstattung.

1904 war er so weit, dass er als das größte journalistische Problem einen Auflageninstinkt ohne Rücksicht auf Wahrheit und Gewissen ausmachte. Während immer mehr Blätter den von ihm geprägten Stil der Boulevardpresse übernahmen, wandte sich Pulitzer der seriösen Berichterstattung zu. Er erkannte, dass exakte Information und Wahrheitstreue erste Pflicht sein mussten.

Am 29. Oktober 1911 starb Pulitzer auf seiner Yacht "Liberty" im Hafen von Charleston. Er hatte sich, voller Schmerzen, von drei bis sechs Uhr früh von Alleyne Ireland Bücher vorlesen lassen und sich von ihm verabschiedet: "Heute Nachmittag lesen wir dann zu Ende. Leben Sie wohl, ich bin Ihnen sehr dankbar."

"Durch die Furcht vor der Presse werden mehr Verbrechen, Korruption und Unmoral verhindert als durch das Gesetz."

In einer seriösen Berichterstattung, erkannte Pulitzer, müssen exakte Information und Wahrheitstreue die erste Pflicht sein.