SCHULD Vor 60 Jahren wurden zum ersten Mal Hamburger Juden ins KZ gebracht. Gauleiter Kaufmann betrieb die Deportationen aktiv, auch viele Hamburger wussten Bescheid.

Frank Bajohr

14. April 1948: Im Internie-rungslager Staumühle bei Pader-born befragt ein Staatsanwalt den ehemaligen Hamburger NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann zur Deportation der Juden aus der Hansestadt. Kaufmann spielt den Ahnungslosen: "Von den Ausweisungen der Juden aus Hamburg durch die Staatspolizei habe ich etwa im Jahre 1941 erfahren", gibt er zu Protokoll. Die Befehle zu diesen "Ausweisungen" - wie der Ex-Gauleiter die Deportation von Menschen in den Tod bezeichnet - seien ihm "im Einzelnen nicht bekannt geworden", er habe aber "hiergegen protestiert". Die Deportation der Juden aus Hamburg - so wollte Kaufmann den Staatsanwalt glauben machen - sei an den Hamburger Verantwortlichen vorbei, ja gegen ihren Willen von der Reichsführung in Berlin angeordnet worden. Mit dieser Auskunft gab sich Staatsanwalt Dr. von Spindler zufrieden. Für die Deportation und Ermordung der Hamburger Juden musste sich Kaufmann nie gerichtlich verantworten.

Dabei mangelte es nicht an Dokumenten, die nicht nur Kenntnis, sondern die zentrale Verantwortung Kaufmanns für die am 25. Oktober 1941 begonnene Deportation der Hamburger Juden belegten. Im Diensttagebuch des "Regierenden Bürgermeisters" Carl Vincent Krogmann findet sich unter dem Datum des 16. Oktober 1941 der Eintrag: "Beim Reichsstatthalter Besprechung wegen der Aussiedlung der Juden." Neun Tage später fuhr der erste Deportationszug aus Hamburg ins Ghetto Litzmann/Lodz. Die Alliierten hatten 1945 von der Korrespondenz Hermann Görings einen Brief Kaufmanns aus dem Jahre 1942 beschlagnahmt, in dem der Gauleiter den tatsächlichen Gang der Ereignisse schilderte: "Im September 1941 war ich nach einem schweren Luftangriff an den Führer herangetreten mit der Bitte, die Juden evakuieren zu lassen (. . .). Der Führer hat unverzüglich meiner Anregung entsprochen und die entsprechenden Befehle zum Abtransport der Juden erteilt."

Nicht die Reichsführung in Berlin drängte auf die Deportation der Hamburger Juden, sondern die Hamburger Stadt- und Parteiführung selbst forderte deren "Evakuierung", um - wie sie vorgab - die so genannten "Judenwohnungen" an Ausgebombte zu vergeben. Solche Initiativen "von unten", vorgebracht von Gauleitern wie Kaufmann, Goebbels und von Schirach, trugen entscheidend zur Deportation der Juden aus Deutschland im Herbst 1941 bei. Initiative "von unten" und Anordnung "von oben" - dieses typische Muster nationalsozialistischer "Judenpolitik" zeigte sich auch bei den Deportationen.

Die Tageszeitungen schwiegen sich über die "Evakuierung" der Juden - wie die Deportationen beschönigend bezeichnet wurden - zwar aus. Dennoch war nicht zu übersehen, dass sie sich in aller Öffentlichkeit abspielten. Das Logenhaus und der Platz an der Moorweide, wo die meisten Transporte zusammengestellt wurden und die Juden sich zu versammeln hatten, waren für jeden Benutzer der S-Bahn gut einzusehen. Und die Hamburger schauten durchaus nicht weg: "In der Bahn reckten die Leute die Hälse; vorm Logenhaus wurde offenbar ein neuer Transport zu verschickender Nichtarier zusammengestellt", notierte eine Hamburgerin am 7. November 1941. Von dort trieben "ganz normale" Polizisten die Juden auf Lkw, durch ein Spalier höhnisch Beifall klatschender "Volksgenossen". Möbel, Kleidung und letzte Habseligkeiten der Deportierten wurden von Zehntausenden "ganz normaler" Hamburger zum Spottpreis ersteigert.

Kann man daraus auf ein generelles oder doch unterschwelliges Einverständnis der Deutschen und der Hamburger gegenüber den Deportationen, ja dem Holocaust schließen? Ein näherer Blick auf Quellen und Zeugnisse macht deutlich, dass diese Frage nicht mit einem einfachen "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann. Schon bei den Reaktionen der Hamburger auf die Deportationen lassen sich mindestens drei Verhaltensmuster identifizieren: einer Minderheit, die lautstark und öffentlich ihre Zustimmung demonstrierte, stand eine winzige Minderheit entgegen, die sich für einzelne jüdische Bürger einsetzte oder auch anonym für die Deportierten Lebensmittel spendete. Stellvertretend für diejenigen, die sich zu Gunsten einzelner Juden engagierten, seien hier Bankier Cornelius von Berenberg-Goßler und Carl Ludwig Nottebohm, ehemaliger Präses der Handelskammer, genannt.

Die große Mehrheit der Hamburger verhielt sich gegenüber den Deportationen jedoch unauffällig, achselzuckend und indifferent. War es aber möglich, sich blind zu stellen? Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass mindestens ein Viertel, wahrscheinlich jedoch etwa 40 Prozent der Deutschen vor 1945 genaue Informationen über den Massenmord besaßen. Das NS-Regime suchte eine öffentliche Erörterung des Holocaust mit drakonischen Mitteln zu unterbinden. So wurde der Hamburger Privatlehrer Albrecht Thausing wegen "Heimtücke" zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Er hatte geäußert: "Die SS hat in der Tschechei ähnlich gewütet wie in Polen mit den Juden aus Hamburg. Erschießungen etc. am laufenden Band."

Vieles spricht dafür, dass es sich bei solchen Bekundungen keineswegs um isolierte Meinungsäußerungen handelte. Als große Teile Hamburgs im Juli/August 1943 in Schutt und Asche sanken, konstatierten Seelsorger ein "Gefühl für Schuld" in der Bevölkerung. Ostasienkaufmann Lothar de la Camp berichtete seinen Bekannten, dass Hamburger aus allen Schichten die Angriffe als "Vergeltung gegen die Behandlung der Juden durch uns" bezeichneten. Solche Äußerungen sind auch deswegen bemerkenswert, weil sie indirekt auf verbreitete Kenntnis des Holocaust verweisen. Sie zeichnen das Bild einer Bevölkerung, die sich einsichtiger zeigte, als sie es selbst bei Kriegsende wahrhaben wollte: Als die Alliierten einmarschierten, schallte ihnen ein vieltausendfaches "Wir haben es nicht gewusst" entgegen - und der Verweis auf eigene Opfer überlagerte vielfach das Mitgefühl mit den ermordeten Juden.

Dr. Frank Bajohr arbeitet als

Historiker in der Forschungsstelle

für Zeitgeschichte in Hamburg.

Als große Teile Hamburgs im Juli/August 1943 in Schutt und Asche sanken, konstatierten Seelsorger ein "Gefühl für Schuld" in der Bevölkerung.

"Der Führer hat unverzüglich meiner Anregung entsprochen und die entsprechenden Befehle zum Abtransport der Juden erteilt." Karl Kaufmann