In jeder fünften Familie mit Kindern unter 18 Jahren erzieht heute ein Elternteil allein, davon sind 85 Prozent Mütter und nur 15 Prozent Väter. 65 Prozent der Kinder, die in Ein-Eltern-Familien leben, sind Einzelkinder, ihnen fehlt es also nicht nur an einem zweiten Elternteil, sondern auch an Geschwistern. Und in Hamburg lebt überhaupt nur noch in jedem fünften Haushalt mindestens ein Kind. Die Zahl der Kinder, die ohne Väter aufwachsen müssen, hat sich in den letzten Jahren vervierfacht.

Die Mutter ist die wichtigste Bezugsperson im Leben eines je-den Menschen, und zwar sowohl, wenn sie lieb, als auch, wenn sie schrecklich ist, ja selbst, wenn sie gar nicht mehr da ist. Wenn sich Eltern trennen, verliert jedes zweite Kind den Kontakt zum Vater. Das betrifft in Deutschland mehr als eine Million Kinder.

Selbst wenn Mütter, Großmütter, ältere Schwestern, Erzieherinnen und Lehrerinnen objektiv alles richtig mit dem Kind machen, nützt es subjektiv dem Kind noch nicht viel, denn es hat stets das Gefühl, dass ihm etwas Selbstverständliches fehlt, das der Freund und das Nachbarskind haben, nämlich ein Vater. Jungen, die auf der Suche nach ihrer Männlichkeit sind, aber ohne Vater aufwachsen, werden eher gewalttätig, wie Studien immer wieder ergeben.

Denn die Vaterfigur spielt eine große Rolle bei der Orientierung und Identitätsfindung von Jungen.

Kinder tendieren in verschiedenen Entwicklungsphasen mal mehr zur Mutter, mal mehr zum Vater; und sie geraten immer etwas schwierig in den vaterakzentuierten Phasen, wenn ihnen der Vater fehlt, weil es ihnen dann an seinem Rollenmodell mangelt. Jungen, die ohne Vater aufwachsen, neigen daher öfter zu Depressionen, fallen häufiger durch Antriebsschwäche, durch Leistungsdefizite und durch die Unfähigkeit auf, dauerhafte Beziehungen aufzubauen. Väter sind nicht gleich Väter; es gibt Väter wider Willen, fahnenflüchtige Väter, Machos, Arbeitsmaschinen, Väter, die Erziehung und Schule den Müttern überlassen, Väter, die sich nur das Angenehme wie Ausflüge, gemeinsames Fernsehen, Kinogänge und Fußballspielbesuche herauspicken, aber auch "neue Väter", die liebevoll und mütterlich zu ihren Kindern sind und sie umfassend leiblich versorgen.

Kinder brauchen auch die im Vergleich zur Mutterliebe ganz andere Vaterliebe, um angstfrei auf andere zugehen und Problemsituationen besser bewältigen zu können. Und Väter vermögen übrigens genauso leicht innige Liebesbeziehungen zu ihren Kindern aufzubauen wie Mütter. Ein nur Müttern angeborenes Pflegeverhalten gibt es nicht; die Liebe zwischen Mutter und Kind wird letztlich von beiden Seiten ebenso gelernt wie die zwischen Vater und Kind. Im Allgemeinen haben Konflikte und Scheidungen der Eltern auf Jungen bis zu zehn Jahren schlimmere Auswirkungen als auf Mädchen. Als junge Erwachsene haben Mädchen damit jedoch größere Probleme.

Was Einzelkinder an Geschwisterlichkeit nicht haben, müssen Eltern teilweise selbst anbieten und teilweise über Freunde der Kinder ermöglichen: Balgen, Ausprobieren von Macht und Unterwerfung, Heimlichkeiten, Grenzerfahrungen, Sprachanbindung, Spiel, Bewegung und Körperkontakt. Einzelkinder orientieren sich früher in der Erwachsenenwelt als Geschwisterkinder, sie laufen eher Gefahr, für sie wichtige Bewegungs- und Spielerfahrungsstufen zu überspringen.

Das Einzelkinddasein muss kein benachteiligendes Schicksal sein; es kommt mehr auf die Zuwendung aller im Umfeld vorhandenen Bezugspersonen an als auf den Umstand, dass man keine Geschwister hat. Letzten Endes gilt die trostreiche Feststellung, dass eine allein erziehende berufstätige Mutter mit drei Kindern, die "gut drauf" ist, alle denkbaren statistischen Nachteile, die für die Sozialisation in ihrer Familie gelten, durchaus kraft ihrer Persönlichkeit, ihrer Einstellung zu ihren Kindern, ihres Engagements und ihres Organisationstalents mehr als gut aufzufangen vermag.

Ende

Nur Müttern angeborenes Pflegeverhalten gibt es nicht; die Liebe zwischen Mutter und Kind wird ebenso gelernt wie die zwischen Vater und Kind.