Von MATTHIAS GRETZSCHEL

Hamburg - Eine junge Frau geht mit wachem Blick durch die Stadt. Sie entdeckt Motive: Häuser, Straßen, Stadtlandschaften, Passanten. "Wenn mich etwas interessiert hat, habe ich beschlossen, es zu einer bestimmten Tageszeit und bei entsprechendem Licht zu fotografieren", sagt Natascha A. Brunswick. Unprätentiös ist die freundliche alte Dame und bei allzu detaillierten Reporterfragen ein bisschen ratlos. Nein, sagt sie, als Künstlerin habe sie sich damals nicht gesehen. Warum sie fotografiert hat? "Aus Spaß", meint sie, und lächelt.

"Hamburg - Wie ich es sah" heißt eine Ausstellung mit Fotografien von Natascha A. Brunswick, die heute Abend gemeinsam mit einer Ausstellung von Künstlerporträts der Fotografin Angelika Platen im Museum für Kunst und Gewerbe eröffnet wird. Brunswicks Fotos, die in dieser Schau eine späte Würdigung erfahren, stammen alle aus den 20er- und 30er-Jahren. Es sind meist private Bilder, die Familienangehörige zeigen, aber auch Landschaften, Blumen und immer wieder Architektur und städtische Szenen - Dokumente des Alltäglichen. Sie bestechen vor allem durch die Sicherheit der Komposition, die sie von Amateurarbeiten deutlich unterscheidet. Auch wenn diese Fotografin kaum experimentell arbeitete, ist der Einfluss des Neuen Sehens dennoch unverkennbar.

In Begleitung ihres Sohnes Tom Artin ist Natascha jetzt eigens aus Princeton/New Jersey in ihre alte Heimatstadt gereist, um bei der Eröffnung dieser Ausstellung dabei zu sein. Geboren wurde sie 1909 in St. Petersburg als Tochter einer russischen Adeligen und eines jüdischen Sozialdemokraten. Nach der Oktoberrevolution floh die Familie über Tiflis und Linz nach Hamburg, wo Natascha die Lichtwarkschule besuchte. Mit ihrem Wunsch, am Bauhaus Architektur zu studieren, konnte sie sich bei ihrem Vater nicht durchsetzen. Statt dessen belegte sie Mathematik an der Hamburger Universität, hörte aber auch kunstgeschichtliche Vorlesungen bei Erwin Panofsky und Ernst Cassirer.

1929 heiratete sie ihren Mathematik-Professor Emil Artin, der ihr bald nach der Hochzeit eine Leica schenkte. Das Ehepaar zog nach Langenhorn, wo ihre ersten beiden Kinder geboren wurden. Zum Fotografieren ermutigt wurde sie von dem Hamburger Maler Heinrich Stegemann, der ihre Begabung erkannte. Dennoch blieb es für Natascha eine familiäre Angelegenheit, ein Hobby, dem sie allerdings mit großem Qualitätsanspruch nachging. Auffällig sind die vielen selbstbewussten, modernen Frauen auf ihren Bildern: ihre Schwester Jasny beim Ausdruckstanz, Schulfreundinnen an der Ostsee. In den frühen 30er-Jahren entstanden auch die meisten ihrer Hamburg-Motive. Natascha Brunswick fotografierte Kinder, die am Jungfernstieg Möwen füttern, doch die meisten ihrer Stadtansichten sind menschenleer: Straßen, Fleete, die Fassade des Chilehauses. "Architektur hat mich immer besonders interessiert", sagt die verhinderte Bauhaus-Architektin, deren Bilder sachlich wirken und dabei doch ein feines Gerspür für Stimmungen verraten.

Nachdem 1937 das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" in Kraft trat, verlor Emil Artin seine Stelle an der Universität. Natascha musste - wieder einmal - emigrieren, ging mit ihrer Familie in die USA, wo ihr Mann an einer Universität arbeiten konnte. Als die Vereinigten Staaten 1942 in den Krieg eintraten, wurde die jüdische Emigrantin zur "feindlichen Ausländerin", die ihre Leica der Polizei aushändigen musste. "Ich konnte sie zwar nach Kriegsende wieder abholen, doch dann hatte ich keinen Spaß mehr am Fotografieren", erinnert sie sich.

Außer einigen Familienbildern, die an den Wänden der Wohnung hingen, gerieten ihre Fotos in Vergessenheit. Erst 1996 entdeckte Tom Artin die Aufnahmen zufällig in einem Schrank. 1999 wurde eine erste Auswahl davon in der Galerie "KunstGenuss" in Eppendorf gezeigt. Später erwarb das Museum für Kunst und Gewerbe den gesamten Bestand von 227 Originalfotografien. Im Katalog, der Natascha Brunswicks Gesamtwerk dokumentiert, heißt es: "Die umfassende Retrospektive, die das Museum der Fotografin zu ihrem 92. Geburtstag widmet, bildet den Höhepunkt und vorläufigen Abschluss einer langen, von politischen Ereignissen bestimmten Lebensreise."

Steintorplatz, bis 28. Oktober, di-so 10-18, do 10-21 Uhr, Katalog 29,80 Mark.

Erst 1996 entdeckte ihr Sohn die Fotografien beim Aufräumen in einem Schrank