Von ALEXANDER SULANKE

Von einer Wiese im Necedah National Wildlife Refuge im US-Bundesstaat Wisconsin hebt ein Ultraleichtflugzeug ab und nimmt Kurs Süden. Elf junge Kanadakraniche folgen der Maschine wie selbstverständlich. Die Tiere haben den Motorflieger als ihren Leitvogel akzeptiert. Er führt sie aus der Isolation ihrer Aufzuchtstation ins Winterquartier nach Florida, in die Wildnis. Alle Vögel überleben.

Im vergangenen Herbst war das eine wissenschaftliche Sensation. Und ein Bargteheider hatte Grund zur Freude: Dr. Bernhard Weßling, Chemiker, Unternehmer, seit einigen Jahren auch ehrenamtlicher Kranichschützer. Denn seine Idee hatte dazu geführt, dass die Vögel dem Flugzeug bereitwillig folgten. Weßling hat herausgefunden, wie man mit Kranichen sprechen kann.

Und das ist so etwas wie der Schlüssel zum Erfolg bei der Auswilderung von Kranichen, die in Aufzuchtstationen aufgewachsen sind: "Kraniche haben Kultur. Aber wenn man ihnen keine Kultur mit auf die Reise gibt, haben sie in der Wildnis Probleme", sagt Weßling. Seine Erkenntnisse haben ihn in Kreisen der Kranichschützer zu einem weltweit anerkannten Spezialisten gemacht.

Bald startet wieder so ein Ultraleichtflugzeug. Doch diesmal geht es um viel mehr, denn diesmal werden es junge Schreikraniche sein, die von Wisconsin aus ihren Flug in die Freiheit antreten. Die US-Behörden haben das Projekt nach dem erfolgreich verlaufenen Test mit den Kanadakranichen genehmigt. Es ist eines der zurzeit weltweit größten Artenschutz- und Auswilderungsprojekte. "Der Bestand der Schreikraniche ist besonders bedroht. Es gibt nur noch 174 wild lebende Individuen", sagt Weßling.

Er hat die wilden Schreikraniche beobachtet, ihre Laute aufgenommen und zu deuten versucht. "Ganz verstanden habe ich ihre Sprache zwar noch nicht, gerade mal an der Oberfläche gekratzt", meint der Wissenschaftler. Sieben Rufe habe er jedoch eindeutig zuordnen können. Zum Beispiel den allgemeinen Lockruf, der so viel wie "Komm her!" bedeuten mag. "Dann gibt es einen Ruf, der ,Achtung, aufpassen' bedeutet. Ein dritter ist das Startsignal und könnte mit ,Ich fliege jetzt. Kommst du mit?' übersetzt werden", sagt Weßling.

Die weiteren Rufe: "Vorsicht, extreme Gefahr!", "Hier gehts weiter", "Nicht landen. Irgendwas ist nicht in Ordnung", "Wir sind ein Paar, und hier ist unser Revier".

Die Vogelschreie sind als Computerdateien in einer so genannten Soundbox gespeichert, die auf Knopfdruck jeden Ruf sofort wiedergibt. In der künstlichen Welt der Aufzuchtstation bekommen die Jungvögel regelrecht Sprachunterricht. Ausgestattet mit den Grundbegriffen der Kranichsprache geht es dann auf die große Reise.

"Bisher sind die Kraniche in Gefangenschaft stumm groß geworden, vergleichbar etwa mit Menschen, die ohne Sprache aufwachsen", erklärt Weßling, "sie waren ausschließlich optisch geprägt." Für den Prozess der Auswilderung selbst hatte das zur Folge, dass kein Kranich jemals auf die Idee gekommen wäre, hinter irgendetwas herzufliegen. Die Vögel blieben auf dem Boden - bei dem Pfleger, den sie kannten. "Und ein Kranich, der dem Flieger doch gefolgt ist, hat bald gemerkt, dass er der einzige ist, und ist daraufhin wieder umgekehrt", berichtet Weßling.

Nach der neuen Methode hören die Kraniche den Lockruf des Flugzeugs, der aus Lautsprechern am Fahrwerk ertönt, und folgen willig. Die Rufe sind auch bei der Landung im Auswilderungsgebiet hilfreich, das hat der Pilotversuch mit den Kanadakranichen im vergangenen Jahr gezeigt. "Wir wollten die Vögel auf einer Insel im Süden Floridas absetzen, auf der das Flugzeug nicht landen konnte. Als die Maschine über dem Gebiet war, hat der Pilot den Lautsprecher ausgeschaltet. Ein Mitarbeiter am Boden hat begonnen, Lockrufe auszusenden", erzählt Weßling.

Dass die in Isolation aufgezogenen Vögel vom ersten Tag an mit ihren wilden Artgenossen kommunizieren können, ist der langfristige Aspekt der Weßlingschen Sprachschulung. "Einer der jungen Kanadakraniche ist im vergangenen Jahr während des Fluges nach Florida von einem wilden Paar ohne Nachwuchs entführt worden", berichtet der Bargteheider. Die Kranichschützer waren begeistert über diesen unverhofften Erfolg.

Auf die Idee, mit Kranichen zu sprechen, ist Dr. Bernhard Weßling eher zufällig gekommen. Im Duvenstedter Brook, quasi vor der eigenen Haustür, beobachtete er die hierzulande verbreiteten Graukraniche. "Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, die Vögel, die ich beobachte, auch wieder zu erkennen", erklärt der Chemiker. Er beschloss, ihre Rufe aufzunehmen, am Computer zu analysieren und einen so genannten akustischen Fingerabdruck herzustellen.

"Vor vier bis fünf Jahren wurde diese Methode international bekannt, und ich wurde in ein Kranichschutzprojekt nach dem anderen verhaftet", sagt der Bargteheider schmunzelnd. Die Laute den Verhaltensweisen der Vögel zuzuordnen, war da nur noch ein kleiner Schritt.

Ende September werden die seltenen Schreikraniche mit dem Flugtraining beginnen. Spätestens Anfang November sollen sie in die Freiheit entlassen werden - nicht zum letzten Mal. Weßling: "Es ist geplant, etwa fünf Jahre lang auszuwildern. Dann gibt es wieder genug Kraniche."