Die Polizei sucht schon seit Jahren nach mehr als 1000 Kindern. Ein Rechner fahndet jetzt auch im Internet nach den Vermissten. Sein Programm ist bei der Entwicklung von Software abgefallen.

Vor fünf Jahren verschwand Deborah Sassen spurlos. Einfach so. Kein Hinweis auf den Täter, keine Spur zum Motiv. Eine Mitschülerin war die Letzte, die das damals acht Jahre alte Mädchen mit den blonden, glatten Haaren sah - am Hintereingang der Grundschule "Rheindorfer Weg" im Düsseldorfer Stadtteil Wersten. Die Polizei folgte seit diesem 13. Februar 1996 vielen Hinweisen, aber keiner führte sie zur stupsnäsigen "Debbie". So war es auch bei Tanja Mühlinghaus (13) aus Wuppertal, bei Angelica Staratschek (5) aus Landshut, bei Natascha Kampusch (12) aus Wien und bei Jan Nejedly (12) aus Prag - fünf von etwa 1000 Kindern, die bei der Polizei als langfristig vermisst gelten.

Seit kurzem haben die Eltern dieser Kinder wieder neue Hoffnung geschöpft. Denn in einem schmucklosen Gebäude auf dem ehemaligen Philips-Gelände in Kassel suchen mehrere Hundert Hochleistungscomputer seit Jahresanfang nach Bildern der verschwundenen Minderjährigen im Internet. Der Clou: Sie können durch ein einzigartiges Programm der Internet-Firma "Cobion" gezielt bestimmte Fotos mit allen im weltweiten Datennetz vorhandenen Bildern abgleichen. "Das ist international der erste Versuch, bei dem nach Fotos vermisster Kinder gesucht wird und nicht nur wie bisher Fahndungsfotos ins Internet gestellt werden", sagt Cobion-Chef Jörg Lamprecht.

Dagmar Funke, Mutter von Debbie, klammert sich an den neuen Strohhalm, der da plötzlich wächst. "Dieses Programm bietet viel größere Suchmöglichkeiten. Erstmals kann gezielt im ganzen Internet recherchiert werden. Das ist wieder ein Hoffnungsschimmer", sagt sie, und man merkt am Klang ihrer Stimme, wie sehr ihr die neue Perspektive Auftrieb verschafft.

Kernstück der revolutionären Bildersuche ist das "Blaue Zimmer", ein in schummrig blaues Licht getauchtes Rund, in dem auf sieben in die Wände eingelassenen Monitoren unablässig Zahlenkolonnen flimmern. Über einem Schaltpult hängt eine große Leinwand. Deborah ist darauf zu sehen. Sie lächelt verschmitzt - wie das Kinder so machen, wenn sie von Mama oder Papa beim Fotografen dazu aufgefordert werden. Mit diesem Bild als Schablone jagen die Cobion-Computer durch die Weiten der Cyber-Welt - auf der Suche nach diesem oder ähnlichen Bildern der kleinen Debbie.

"Die Fotos der vermissten Kinder werden für unser Programm zu einer Art mathematischem Fingerabdruck umgewandelt", sagt Cobion-Sprecherin Marina Klubescheidt. Die Gesichter der Personen werden vom Programm exakt ausgemessen, das Verhältnis von Augen zu Nase, von Nase zu Mund, von Mund zu Kinn und so weiter millimetergenau erfasst. "Am Ende hat das Programm 5000 Gesichtsmerkmale in Form von Zahlen gespeichert, die bei der Suche im Netz wie eine Schablone über ähnliche Bilder gelegt werden können."

Noch liegen keine Ergebnisse vor, denn der Suchvorgang dauert mindestens vier Wochen. Die Rechner müssen sich immerhin durch 500 Millionen Internet-Seiten schlängeln, die bei Cobion bekannt sind - deshalb haben sie die Techniker auch "Crawler" (Kriecher) getauft. 150 Millionen Bilder stehen in den Speichern der Supercomputer derzeit zum Abgleich bereit, jeden Tag kommen eine Million neue hinzu. Klubescheidt stöhnt: "Es bleibt eine Suche im Heuhaufen."

Studien besagen, dass es jetzt schon mehr als zwei Milliarden Internet-Seiten gibt. Jeden Tag wächst diese Zahl um weitere sieben Millionen Homepages. "Wir können bisher also nur etwa ein Viertel des gesamten Internets absuchen." Die Cobion-Sprecherin betont dies bewusst. Denn sie will vermeiden, dass Eltern zu große Erwartungen haben und am Ende noch frustrierter sind.

Aber noch läuft das Projekt ja sozusagen im Versuchsstadium. Derzeit sucht das Programm nach fünf Kindern - drei von der Elterninitiative Kisdorf bei Hamburg und zwei von der Schweizer Organsation "Fredi". Die Schweizer waren zu Beginn auch mit drei Kindern vertreten, doch der 18-jährige Spanier Jose Jaoquin wurde inzwischen von der Polizei tot aufgefunden. Mit zwölf solcher sorgsam ausgewählten Organisationen hat Cobion eine Zusammenarbeit vereinbart. Jeden Monat kommen so drei neue Kinder hinzu, so dass der Super-Computer bis Ende des Jahres seine Fühler nach 36 vermissten Kindern im Internet ausstrecken kann.

Was das Programm wirklich kann, zeigt Marina Klubescheidt im Herzstück des Bildsuch-Systems, dem blauen Designer-Kontrollraum. Als die Software-Entwickler der Kasseler Firma im vergangenen Sommer letzte Tests mit dem Programm durchführten, fütterten sie es mit den Daten eines Fotos von Albert Einstein. Nach Abschluss des Suchlaufs spukte der Rechner 370 gefundene Bilder aus. Sie zeigen Einstein in verschiedenen Lebensaltern, verschiedenen Kopfhaltungen, auch das berühmte Bild mit der heraushängenden Zunge ist dabei, und das Programm erkannte den genialen Physiker sogar auf Tassen, die unscharf in einem Bild im Hintergrund standen.

Monika Bruhns von der Elterninitiative Kisdorf ist von den Möglichkeiten des Programms begeistert. "Wir müssen jede neue Gelegenheit nutzen, obwohl ich die Chancen auf Erfolg realistisch sehe", sagt sie. "Aber dieses Projekt erlaubt uns erstmals, aktiv nach vermissten Kindern zu suchen." Und je mehr sich das Internet im Alltag verbreitet, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, im Netz fündig zu werden. "Von Elternteilen entzogene Kinder", sagt Klubescheidt, "die gehen auch andernorts zur Schule, zum Sportverein. Viele solcher Einrichtungen veröffentlichen Projekte oder Erfolge inzwischen im Internet. Ein weiterer Ansatzpunkt für uns."

Was passiert, wenn der Suchlauf der Computer abgeschlossen ist? "Dann gleichen unsere Archivrechner die gefundenen Daten mit den gespeicherten Bilddaten ab. Die Treffer werden als Liste ausgedruckt und von uns an die Suchorganisationen und die Polizei weitergeleitet", erklärt die Cobion-Sprecherin. Gerne würde die Firma übrigens ihr Programm verstärkt für den guten Zweck einsetzen, doch - die Firmensprecherin zuckt mit den Schultern - das Unternehmen müsse schließlich auch parallel das normale Geschäft weiterführen. Und dazu benötigt sie nun mal die Kraft der insgesamt 1000 Computer im Haus.

Die Polizei könnte doch helfen. "Ja, das könnte sie", sagt Klubescheidt. "Beamte des Bundeskriminalamts waren hier, haben sich alles angesehen. Eine Übernahme in den Polizeidienst war aber bislang kein Thema." Wohl aus Geldmangel, darf man annehmen. Denn zu einem solchen Programm passt natürlich kein Computer, der für eine schnöde Wortsuche im Internet schon Minuten benötigt. "Seit Beginn unseres Projekts haben sich schon mehrere Eltern gemeldet", sagt die Firmen-Sprecherin, "die sich von der Polizei bei der Suche nach ihrem Kind nicht richtig betreut fühlen."

Monika Bruhns teilt diese Erfahrung: "Behörden-Mühlen mahlen einfach langsam. Bis da eine Entscheidung, beispielsweise dafür, das Cobion-Programm anzuschaffen, fällt, ist schon viel Zeit vertan." Vielleicht gebaren die Mitarbeiter von Cobion deshalb im vergangenen Sommer die Idee, ihr Suchprogramm dem guten Zweck zur Verfügung zu stellen. Eigentlich ist es ja dazu geschaffen worden, Logos und Markenzeichen von Unternehmen im Internet zu finden, um eine Waffe gegen unerwünschte Kopien zu haben. "Wenn wir auch nur ein Kind durch dieses Projekt wieder finden, hat sich der Einsatz bereits gelohnt", resümiert Klubescheidt. "Denn wir sollten nie vergessen: Derzeit werden in Deutschland 1000 Kinder vermisst - so viel wie eine ganze Ortschaft."