Uelzen - "Ich habe keine Angst." Die Dame im schwarz-weiß karierten Blazer spießt eine weichgekochte Nudel aus der Tomatensoße. Ihre Augen funkeln über der randlosen Brille, die ganz vorn auf ihrer Nasenspitze sitzt. "Ein schicksalhaftes Ereignis", sagt Philine Haase. "Niemand hätte das verhindern können."

Die Leiterin der Justizvollzugsanstalt (JVA) Uelzen sitzt im kleinen Speiseraum für die Bediensteten, der direkt an die Gefängnisküche anschließt. Noch vor knapp einem Jahr gingen die Vollzugsbeamten durch die Küche zum Essen, vorbei an den Häftlingen mit den weißen Kochmützen. Jetzt machen die Wärter einen Bogen um die Küche. Die Tür, die die beiden Räume verband, dient nur noch als Durchreiche.

Der verurteilte Totschläger Wieland Beust nutzte seinen Küchendienst am 13. August 1999 dazu, eine offene Rechnung zu begleichen. Mit einer 20 Zentimeter langen Klinge bewaffnet stürzte er auf den stellvertretenden Anstaltsleiter Eckhardt Bunte zu und rammte ihm das Messer in die Brust. Drei Bedienstete, die ihrem Chef helfen wollten, stach er ebenfalls nieder, bevor er sich selbst tötete. Bunte und der stellvertretende Küchenchef Kurt Jendrischek starben an ihren Verletzung.

Philine Haase hat die Morde nicht miterlebt. Sie trat erst Ende Oktober vergangenen Jahres die Nachfolge Eckhardt Buntes an. Seit drei Monaten leitet die 55 Jahre alte Juristin die JVA Uelzen. Chefin eines Gefängnisses, in dem zur Zeit 337 Männer ihre Strafe verbüßen. Betrüger, Diebe, Mörder. 119 Beamte passen auf sie auf.

Äußerlich verbindet die elegante, rothaarige Frau wenig mit den Uniformierten in den hellblauen Kurzarmhemden, die am Tisch hinter ihr zu Mittag essen. Nur den ledernen Holster trägt sie wie die Männer an der Hüfte. Darin stecken die Schlüssel für die Gefängnistore, gesichert mit einer Metallkette. Sie hat die Tasche erst nicht anlegen wollen. 14 Jahre im Vollzug ist sie ohne ausgekommen. "Die passt eigentlich nicht zu mir." Doch ihre Untergebenen haben sie überzeugt. "Aus Sicherheitsgründen."

Als sie nach Uelzen wechselte, wirkte das Leben in dem Gefängnis so wie in den anderen Anstalten, in denen sie zuvor gearbeitet hatte. "Hätte ich nichts von der Tat gewusst, ich hätte am Verhalten der Leute nicht bemerkt, dass etwas passiert war", sagt Philine Haase. Sie drängte die Mitarbeiter nicht, zu erzählen. Ein Kriseninterventionsteam hatte ein eigenes Büro in der Anstalt eingerichtet. "Auch meine Tür stand immer offen."

Die JVA Uelzen ist ein moderner Gefängnisbau aus dem Jahr 1987. Kameras statt Wachtürme, Sicherheitstüren aus Glas, die den Blick von außen bis in den Innenhof erlauben. Mosaike sind in den Hauptgang eingelassen, der die sechs Häuser der Anstalt miteinander verbindet. Der Tagesablauf soll so weit wie möglich dem Leben außerhalb der sechs Meter hohen Mauern entsprechen.

In der Woche gehen die Männer zur Arbeit in die Schlosserei oder in die Holzwerkstatt. Sie bauen Lampen zusammen, schweißen Gartengrills oder sägen Tigerenten von Janosch aus. Auf dem Sportplatz spielen Beamte und Gefangene gemeinsam in einer Fußballmannschaft. Der SV Störtenbüttel ist das einzige Team in der zweiten Kreisliga, das nur Heimspiele absolviert. Dafür verzichten die Kicker auf den Aufstieg.

Risse in einer geordneten Welt

Doch die geordnete Gefängniswelt hat Risse bekommen. Der Vollzugsbeamte Jörg Hinterthaner (39) hat erlebt, wie einige der Gefangenen an den vergitterten Fenstern ihrer Zellen standen und applaudierten, als der Leichenwagen mit den Mordopfern durch die Sicherheitsschleuse rollte. "Diese Idioten", hat er gedacht. Seitdem blickt er sich häufiger um, wenn er zusammen mit Häftlingen angelieferte Ware auspackt. "Ich halte mir den Rücken frei", sagt er.

Einige der Beamten hatten nach dem Amoklauf das Gefühl, Männer, mit denen sie schon mehrere Jahre gut zurechtkamen, nicht mehr einschätzen zu können. Drohungen, beiläufig ausgesprochen: "Einer von euch ist bereits gefallen, andere werden folgen." Philine Haase: "Da müssen Sie natürlich durchgreifen." Man habe "disziplinarrechtliche Maßnahmen ergriffen". Heißt? "Die Männer bekamen Arrest in ihren Zellen."

Auch Torsten Schlüter* hat die Drohungen zu spüren bekommen. "Der hatte es doch nicht anders verdient", sagten ihm die Mitgefangenen ins blasse Gesicht. Der schmächtige Mann musste sich rechtfertigen, weil er einem Werkstattleiter, der den Amokläufer stoppen wollte, das Leben rettete. Unsicher rutscht der 30-Jährige auf der Bettkante in seiner Zelle hin und her. Über der rosa Matratze hängt ein Poster mit einer vollbusigen Blondine, gegenüber ist die grau getünchte Wand teilweise unter einer Reihe mit Postkarten verschwunden. "Hallo Papa, ich vermisse dich", steht auf einer in schablonenhafter Schönschrift.

Am 13. August sollte Schlüter zusammen mit seinem Werkstattleiter "Kostvermehrungsstücke" aus der Küche holen. Zusätzlichen Fisch für die besonders hungrigen Gefangenen. Da sah er den ehemaligen Box-Champion Wieland Beust, wie er sich über den Anstaltsleiter beugte. "Ich dachte, Wieland schlägt ihn." Doch dann erkannte er das Küchenmesser in der Hand des Täters. Der Werkstattleiter versuchte einzugreifen, doch Beust stach auch ihn nieder. Schlüter schleppte den Verletzten ins Sanitätszimmer, drückte ihm Mullbinden auf die Wunde. "Warum hätte ich ihm nicht helfen sollen? Er war ein Grader. Immer korrekt zu mir."

Aggressionen und Schlägereien gehören zum Alltag in Uelzen. Auch Beust hatte kurz vor seinem Amoklauf eine Schlägerei. Deshalb soll ihm der stellvertretende Anstaltsleiter Konsequenzen angedroht haben. Die Möglichkeit, sich in Uelzen als Koch ausbilden zu lassen, war dahin.

"Es war der letzte Kampf eines Boxers"

Bernd Zimmermann (41) hat mit Beust am Abend vor der Tat in der Gefängnissauna gesessen. "Er kam hier nicht klar", sagt der kräftige Mann in Latzhose, der wegen Anstiftung zum Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt. "Er hat gesagt, er macht sich weg, wenn er die ganze Zeit hier absitzen muss." Für ihn war die Tat kein Amoklauf, sondern gut geplant. "Er muss es in der Nacht wieder und wieder durchgespielt haben. Der letzte Kampf eines Boxers."

Für den Versuch, direkt nach der Tat die Sicherheit im Gefängnis zu verbessern, hat Zimmermann nur ein Lächeln übrig. "Die haben die Wände durchbrochen, um zusätzliche Fluchtwege zu schaffen und ein paar Summer angebracht. Halt damit sie was machen." Anfangs ließ die Gefängnisleitung nur noch Blechmesser ausgeben. Doch dann beschwerten die Gefangenen sich, sie könnten damit keine Zwiebeln schneiden. Da gab es wieder normale Messer.

Der neuen Anstaltsleiterin aber zollt Zimmermann Respekt. "Die ist eine, die einen Sinn im Vollzug sieht. Sie will den Leuten hier drin helfen." Philine Haase macht sich keine Illusionen über die Möglichkeiten, die ihr neuer Job bietet. Die Arbeitslosenquote im Gefängnis will sie von 40 auf 20 Prozent senken, mehr Ehrenamtliche für die Einzelfallhilfe engagieren und die Wirtschaftlichkeit der Schlosserei steigern. Sie ist keine Mutter Gnädig, der die Gefangenen auf der Nase rumtanzen. "Helfen kann man nur, wenn man auch bereit ist, wehzutun", sagt sie.

Der Satz verbindet ihr früheres mit dem jetzigen Leben. Als Krankenschwester ging sie 1968 für ein Jahr nach Vietnam. Auf dem Hospitalschiff "Helgoland" half sie den Menschen, die die Bomben der Amerikaner und des Vietcong verstümmelt hatten. Nach ihrer Rückkehr begann sie Anfang der 70er-Jahre mit dem Jura-Studium. Direkt nach dem Referendariat nahm sie ihre erste Stelle im Gefängnis an. "Krankenhäuser und Knäste haben viel gemeinsam", sagt sie.

Die Zeit auf dem Hospitalschiff hat sie noch etwas gelehrt. "Ich weiß, wie furchtbar es ist, in einer Zwangsgemeinschaft zu leben." Deshalb hält sie auch nichts davon, den Gefangenen das Leben unnötig schwer zu machen. Wo möglich, versucht sie, die Doppelbelegung von Zellen zu verhindern. Private Bettwäsche hat sie genehmigt und erlaubt, dass die Männer die Milch, die sie in der Werkstatt zum Essen dazu bekommen, mit auf ihr Zimmer nehmen können. Kleinigkeiten, die das Leben erleichtern.

Könnte sie das Opfer eines der Männer werden, denen sie zu helfen versucht? "Sie können auch morgen von einem Auto überfahren werden."

* Name von der Redaktion geändert.