Wer zum Bach-Grab in der Thomaskirche pilgert, ahnt meist nicht, dass es nicht mit letzter Sicherheit die Gebeine des Komponisten sind, die hier ruhen. Bach wurde verloren und wiedergefunden - vielleicht.

Von

MATTHIAS GRETZSCHEL

G

anz Leipzig ist an diesem traurigen 31. Juli des Jahres 1750 auf den Beinen, schon vor Stunden musste die Thomaskirche wegen Überfüllung geschlossen werden. Nur wer das Glück hatte, sich einen der vorderen Plätze zu sichern, kann jetzt noch einen Blick auf den Sarg des Verblichenen erhaschen, der nun im Altarraum zur ewigen Ruhe gebettet wird.

Der Superintendent hat den Thomaskantor als "fünften Evangelisten" gewürdigt, der Bürgermeister fand bewegende Worte des Abschieds; und als die Thomaner "Wir setzen uns mit Tränen nieder", den Schlusschor der Matthäus-Passion, singen, kann selbst der aus Dresden angereiste sächsische Kurfürst August III. ein Schluchzen nicht unterdrücken. Eine schöne Vorstellung, dieser würdige Abschied - von der historischen Wirklichkeit aber weit entfernt.

Es war kein pompöses Begräbnis, kein Staatsakt, der Landesherr hatte sich natürlich nicht aus Dresden herbemüht. Und Bach wurde nicht in der Thomaskirche, sondern auf dem Johannisfriedhof beigesetzt. Bachs 50 Jahre alte Witwe Anna Magdalena wird am Grab gestanden haben, auch einige seiner neun Kinder, die ihn überlebt haben, dazu Freunde, Kollegen, auch Vertreter der Stadt und der Thomasschule. Verbürgt ist indes nur, dass Bach am 31. Juli 1750 in einem Eichensarg beigesetzt wurde. Einer mündlichen Überlieferung nach soll sein Grab sechs Schritte neben der südlichen Friedhofsmauer gelegen haben - ohne Stein, ohne Gedenktafel.

Robert Schumann, der das Grab 1836 auf dem Johannisfriedhof suchte, schrieb enttäuscht: "Viele Stunden lang forschte ich kreuz und quer, ich fand keinen J. S. Bach. Als ich den Totengräber danach fragte, schüttelte er über die Obskurität des Mannes den Kopf und meinte, Bachs gäbs viele."

Schumann war nicht der Einzige, der nach dem Grab fragte. Mit der um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden Bach-Renaissance wuchs das Interesse an der letzten Ruhestätte des Thomaskantors. Da die Stelle nicht überliefert worden war, ließ der Rat der Stadt Leipzig 1883 an der Mauer der Johanniskirche immerhin eine Gedenktafel anbringen. Als die Kirche neun Jahre später abgerissen wurde, begannen Experten mit einer groß angelegten Suche nach dem Grab - und am 23. Oktober 1894 fand man tatsächlich einen Eichensarg mit dem Skelett eines älteren Mannes. Sollten das die sterblichen Überreste Bachs sein?

Der aus Basel nach Leipzig berufene Anatomie-Professor Wilhelm His untersuchte Skelett und Schädel. Mit dem Bildhauer Carl Seffner rekonstruierte er Kopfform und Gesicht des Verstorbenen. Dabei stellte sich - o Wunder - heraus, dass das so modellierte Gesicht des Verstorbenen dem Porträt, das Elias Gottlob Hausmann 1746 von Bach geschaffen hatte, verblüffend ähnlich sah. Die Experten verkündeten: Bachs Skelett ist gefunden.

Aber stimmte das? Zwar wenden auch heute Gerichtsmediziner die von His entwickelten, inzwischen verfeinerten Methoden an, um das Aussehen Verstorbener aus Schädeln zu rekonstruieren. Doch Zweifel sind angebracht, denn His und Seffner war das Hausmann-Porträt vertraut. Sie rekonstruierten den Kopf eines Mannes, von dessen Aussehen sie eine genaue Vorstellung hatten. Das Wissen um Bachs Aussehen dürfte, zumindest unbewusst, das Resultat ihrer Arbeit beeinflusst haben.

Doch offiziell war Bach nun wieder da und konnte würdig bestattet werden - nicht etwa in St. Thomas, sondern unter dem Altar der neu erbauten Johanniskirche. Diese zweite Grabstätte sah so aus, wie sie der Musikhistoriker Linus Birchler 1962 in der "Neuen Zürcher Zeitung" beschrieben hat: "Aus der Sakristei wurde man . . . in die Gruft hinabgeführt, die von einer kuriosen Lampe erhellt war. Verblüfft stand der Besucher vor zwei Sarkophagen, die genau gleich waren. Rechts lag Bach, im anderen Sarkophag - Gellert. ,Christian Fürchtegott Gellert 1715-1769' las man auf dem linken Sarkophag, und aus einem kleinen Schriftchen, das in der Sakristei auflag, erfuhr man, dass im gleichen Marmorsarg auch Gellerts Bruder beigesetzt war, der Oberpostkommissar Friedrich Lebrecht Gellert."

Welche Ehre für den wackeren Postbeamten, welch groteskes Nebeneinander! Auf und neben Bachs Sarg lagen, wie Birchler berichtet, viele Visitenkarten: "Auffällig waren die vielen nicht deutschen Namen, darunter eine ganze Menge mit chinesischen und japanischen Schriftzeichen, Namen aus Schweden und Südamerika . . . Der Küster erzählte von einem japanischen Fürsten, der alljährlich aus Nizza zum Grabe Bachs pilgerte."

Als alliierte Bomber Ende 1942 Leipzig in Schutt und Asche legten, ging die Johanniskirche in Flammen auf, doch die Gruft blieb unversehrt. Um sich mit Bach zu schmücken, plante die SED 1948 den Bau eines Mausoleums - eine monströse Rotunde, frei von aller christlichen Symbolik: Bach unter Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Dass es dazu nicht kam, ist vor allem dem Einspruch der Internationalen Bach-Gesellschaft zu danken, die sich dem Vorschlag des damaligen Thomaskantors Günther Ramin anschloss und die Umbettung der Gebeine in die Thomaskirche empfahl.

Mittags am 28. Juli 1948 zogen der Maurermeister Malecki und ein Gehilfe einen zweirädrigen Holzkarren über das holprige Leipziger Straßenpflaster. Niemand nahm Notiz von den beiden Handwerkern, die das Skelett Bachs an dessen 198. Todestag in einer verhüllten Kiste über den Augustusplatz, die Grimmaische Straße und den Markt zur Thomaskirche bugsierten. Dort klopfte Malecki an die Kirchentür und sagte dem Küster: "Tach, ich bring' den Bach."

Die Überführung der Gebeine wurde geheim gehalten. Erst zwei Jahre später, im Rahmen der Feierlichkeiten zu Bachs 200. Todestag, weihte man das Grab in der Kirche ein. Zunächst ragte eine Tumba vom Chorraum in das Kirchenschiff, 1964 verschob man das Grab ganz in den Chor, in dessen Ziegelfußboden die Bronzeplatte eingelassen wurde. Das Material für die Platte, auf der nur Name und Lebensdaten vermerkt sind, hatte die sowjetische Militäradministration zur Verfügung gestellt.

200 Jahre nach seinem Tod bekam Johann Sebastian Bach am 28. Juli 1950 dann doch noch ein Begräbnis mit Staatsakt - wie immer es sich mit dem Ursprung der so geehrten sterblichen Überreste verhalten mag.

Ein Anatomie-Professor und ein Bildhauer rekonstruierten nach dem Schädel das Gesicht des Verstorbenen. Es sah einem bekannten Bachporträt verblüffend ähnlich.