In Sydney strebt Isabell Werth mit Gigolo ihre vierte olympische Goldmedaille an. Die erfolgreichste Dressurreiterin der Welt über die Reize ihres Sports, die Suche nach Kontrolle und die besondere Beziehung zwischen Mensch und Tier.

DAS SPORTGESPRÄCH

ABENDBLATT: Frau Werth, wie den meisten Reitern wurde auch Ihnen der Pferdesport in die Wiege gelegt. Ihre Eltern betreiben im Rheinland eine Zucht. Ist Pferdesport nur etwas für Kinder reicher Eltern?

WERTH: Es gibt natürlich noch andere Zugänge zum Reitsport,aber die natürlichste und einfachste Art und Weise ist, wenn man damit aufwächst. Es ist in den letzten Jahren erschwinglicher geworden, und dieser elitäre Touch, der dem Reitsport anhaftet, verschwindet auch immer mehr, so dass sich Reiten als Breitensport immer stärker durchsetzen wird.

ABENDBLATT: Sie sind auf einem Bauernhof groß geworden. Können Sie sich ein Leben in der Großstadt, zum Beispiel in Hamburg, überhaupt vorstellen?

WERTH: Schwer. Ich finde das Großstadtleben sehr abwechslungsreich und auch spannend, aber auf Dauer würde ich ein Leben auf dem Lande vorziehen.

ABENDBLATT: Was ist es, wonach Sie sich dort sehnen?

WERTH: Die Ruhe, einfach etwas ab vom Trubel zu sein. Und die Abgeschiedenheit, das alles genieße ich sehr.

ABENDBLATT: Hatten Sie mit diesem familiären Hintergrund überhaupt eine Möglichkeit, etwas anderes als Reitsport zu betreiben?

WERTH: Ich war geprägt durch meine Familie. Dass sich das so entwickelt hat, war dann doch Zufall. Früher habe ich fast jedes Pferd geritten, sozusagen alles, was mir unter den Hintern kam. Durch das Treffen mit Dr. Schulten-Baumer kam dann die klare Spezialisierung auf die Dressur.

ABENDBLATT: Was können Kinder heutzutage im Zeitalter von Computer und Internet noch vom Umgang mit Pferden lernen?

WERTH: Es bringt eine gute Erziehung mit sich. Es schult die Disziplin und die Verantwortung. Der Pferdesport ist besonders zeitintensiv. Man kann das Pferd nicht wie einen Hamster schnell zurück in den Käfig stecken, da gehört mehr dazu.

ABENDBLATT: Sie haben sich mit Ihrem Sport einen Kindheitstraum erfüllt. Ist es heute noch manchmal so, dass Sie sich in Ihre Kindheit zurückversetzt fühlen, wenn Sie mit den Pferden arbeiten, oder sind Sie einfach ein Profi, der seinem Job nachgeht?

WERTH: Nein, es ist nicht der Sport, der einen jeden Tag in den Stall treibt. Es ist die Liebe zum Pferd. Das ist auch die Motivation, diesen Sport zu betreiben. Es ist immer wieder etwas anderes, täglich mit einem Lebewesen zu arbeiten, es ist jedes Mal eine andere emotionale Bindung da.

ABENDBLATT: Wie alt sind die Pferde, wenn Sie mit ihnen zu trainieren beginnen?

WERTH: Die Pferde, die Herr Schulten-Baumer auf den Auktionen kauft, sind zwischen drei und vier Jahre alt - in der Regel Warmblüter, die auch gerne mal mit dem Kaltblut gekreuzt werden. Danach beginne auch ich sofort mit den Pferden zu arbeiten.

ABENDBLATT: Laien stellt sich der Dressursport als etwas dar, wo das Pferd zu Bewegungsabläufen gezwungen wird, die nicht unbedingt in seiner Natur liegen. Worin liegt für Sie der Reiz, dem Pferd diese Bewegungen abzuverlangen?

WERTH: Die Ausbildung eines Pferdes braucht fünf bis sechs Jahre, bis man aus einem Rohling dann hoffentlich ein Pferd der S- oder Grand-Prix-Klasse gemacht hat. Das ist dann keine Frage des Aufzwingens und Oktroyierens von unnatürlichen Bewegungen, sondern ein Ausschleifen und Herausbringen von Vorhandenem. Wenn Sie sich mal das Verhalten von jungen Hengsten oder Fohlen auf der Weide ansehen, werden Sie feststellen, dass viele Bewegungsabläufe wie Pirouetten oder der fliegende Wechsel in ihrem Ansatz vorhanden sind. Natürlich nicht in der Perfektion und in der Abfolge wie im Wettkampf. Das zeigt aber auf jeden Fall, dass wir nicht gegen die Natur des Pferdes arbeiten, sondern mit der Natur, und das versuchen auszufeilen. Man kann aus einem Trabbi keinen Porsche machen, und Sie können nicht aus jedem Pferd ein Spitzenpferd machen. Auch die Kombination von Pferd und Reiter muss stimmen, man muss sich finden, damit daraus eine Symbiose entstehen kann.

ABENDBLATT: Mussten Sie häufig nach Jahren harter Arbeit feststellen, dass Sie mit dem einen oder anderen Vierbeiner nicht so harmonierten oder dieser nicht so talentiert war?

WERTH: Gott sei Dank ist diese Situation fast nie aufgetreten. Aus fast allen Pferden ist etwas geworden, was zumindest den internationalen Erfolg betrifft. Natürlich kann nicht jedes Pferd ein Olympiasieger werden oder für die deutsche Mannschaft reiten. Sie kaufen die Hoffnung. Was dann aus dem Pferd wird, muss man abwarten

ABENDBLATT: Wer hat während des Wettkampfs eigentlich mehr zu tun: Ross oder Reiter?

WERTH: Wenn man von der reinen Anstrengung ausgeht, sicherlich das Pferd. Der Laie denkt natürlich, dass sich der Reiter nur vom Tier hin- und herschaukeln lässt und kaum Einfluss auf die Bewegung hat. Ausschlaggebend ist aber das Zusammenspiel zwischen beiden. Die Balance, das Einfühlungsvermögen, die Geschmeidigkeit des Sitzes, das unterscheidet dann letztendlich den besseren vom guten Reiter.

ABENDBLATT: Aber am Ende bekommt dann doch der Reiter die Goldmedaille umgehängt, nicht das Pferd. Wäre es nicht gerechter, auch bei Olympia einen Pferdetausch einzuführen wie zuletzt beim Deutschen Derby, damit der Reiter seine Reitkunst wirklich beweisen kann?

WERTH: Es gibt im Reitsport, wie in allen anderen Sportarten, immer wieder Leute, die zur rechten Zeit am rechten Ort sind, um dort ihre Leistungen zu zeigen. Es gibt aber auch die Sportler, die langfristig ihr Können zeigen werden, egal auf welchem Pferd. Das wird auch in Zukunft der Maßstab sein, den guten vom besseren Reiter zu unterscheiden.

ABENDBLATT: Sie haben selbst schon bewiesen, dass Sie mit einem Pferdewechsel gut zurechtkommen können. Wie ist das, wenn Sie plötzlich auf einem Pferd der Konkurrentin sitzen? Versteht das Ihre Befehle sofort?

WERTH: Man geht in der Regel davon aus, dass ein gut ausgebildetes Pferd von einem guten Reiter gut nachreitbar ist. Mir macht es auf jeden Fall sehr viel Spaß, zu erfühlen, wie die anderen Pferde reagieren, wie sie eingestellt sind. Da muss dann intuitiv entschieden werden, welche Hilfen zu geben sind. Das macht den Reiz aus.

ABENDBLATT: Wie kann man sich diese Befehle vorstellen? Gibt es ein typisches Lehrgerüst?

WERTH: Wir haben eine klassische Linie, ein Reglement, das uns vorschreibt, wie etwas auszusehen hat. Wir haben eine Reitlehre, die uns sagt, wie wir welche Hilfe zu welcher Lektion geben sollten. Das bildet das Grundgerüst, das für alle gleich ist. Jeder Reiter entwickelt später seinen eigenen Stil. Der eine reitet beispielweise mit etwas mehr Schenkeldruck, der andere mit mehr Zügelhilfe. Man versucht, seine eigene Reiterei auf das Pferd einzustellen. Das ist zum Beispiel etwas, was man im Laufe der Jahre lernt: dass man mit dem Pferd arbeitet und nicht gegen das Pferd. Man muss die Persönlichkeit des Pferdes zum Ausdruck bringen und nicht versuchen, seinen eigenen Stil dem Pferd aufzudrängen.

ABENDBLATT: Gibt es da viel Widerstand, oder lässt sich schnell erahnen, was dem Pferd liegt und was nicht?

WERTH: Grundsätzlich ist jedes Pferd verschieden, und bei dem einen fühlt man schneller, welche Hilfe ankommt, bei dem anderen dauert es etwas länger, und man bekommt mehr Widerstand entgegengesetzt. Ich möchte diese Reaktionen vom Pferd, ich will die eigene Meinung des Pferdes spüren. Ich hasse nichts mehr als ein Pferd, das einfach seinen Job macht und sich nicht auch mal sträubt, mal lustlos ist, das nicht auch mal übereifrig oder übermotiviert ist. Ich sage immer so schön: Mit Jasagern kann man keinen Krieg gewinnen.

ABENDBLATT: Frau Werth, Olympia steht vor der Tür. Wie sieht es mit den Vorbereitungen aus?

WERTH: Bisher ist es sehr gut gelaufen, es kommt aber letztendlich alles darauf an, ob sich die Pferde gut vom 30-Stunden-Flug erholen. Nach zwei Wochen Quarantäne in Australien bleiben zwei weitere Wochen für das Training am Ort des Geschehens. Und dann kommt der Tag X.

ABENDBLATT: Was sich von den Fußballern nicht mehr unbedingt behaupten lässt, scheint wenigstens bei der Dressur noch zu gelten: Am Ende gewinnen immer die Deutschen. Warum ist das so?

WERTH: Man kann in Deutschland aus dem Vollen schöpfen. Die Zucht und die Basis, die reiterliche Ausbildung, die Trainer und die Pferde sind einfach am besten. Die anderen Nationen versuchen da anzuschließen, machen Fortschritte, sind bisher aber nicht - noch nicht - an uns herangekommen. Ich hoffe, dass das noch etwas länger so bleibt.

ABENDBLATT: Warum führt der Dressursport trotz des Erfolges immer noch so ein Schattendasein, und wie könnte man dem Abhilfe schaffen?

WERTH: Wir sind momentan in einer ganz guten Entwicklung. Wir müssen aber immer noch mehr machen, um die Sportart für den Zuschauer zugänglicher und transparenter zu machen. Wir sind dabei auch angewiesen auf die Medien, um den Sport begreiflicher zu machen. Wir hatten in der letzten Zeit Fernsehübertragungen, bei denen die Kameraführung auf jeden Fall schon gut war, wo man Zeitlupenaufnahmen hatte und mit entsprechendem Kommentar Unterschiede nahe gebracht werden konnten. Der Zuschauer muss rein visuell die feinen Unterschiede ausmachen können, warum beispielsweise die eine Piaffe schlechter oder besser war.

ABENDBLATT: Kann ich das als Laie überhaupt erkennen?

WERTH: Absolut. Wer wusste denn, bevor Boris Becker kam, was ein Matchball, Doppelfehler oder Breakball ist? Sicherlich ist es beim Dressursport noch etwas anderes, aber wenn wir daran weiterarbeiten und das Publikum mit Zwischenergebnissen versorgen, so dass die Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Reitern deutlicher werden, dann wird es auf jeden Fall attraktiver. Und dann müssen wir auch mehr vor Ort bieten, denn Reiten heißt nicht Show und Entertainment, heißt aber auch Show und Entertainment, um die Leute mehr einzubinden. Es muss mehr Ambiente neben den Veranstaltungen geschaffen werden. Wir müssen aber auch an den Wettkampfzeiten arbeiten, denn ich selbst hätte auch keine Lust, an einem Sonntagmorgen um sieben oder acht Uhr ein Turnier zu besuchen. Das sind auch Zeiten, die für das Fernsehen uninteressant sind.

ABENDBLATT: Zurück zu Olympia: Ist Gigolo noch mal gut für Gold?

WERTH: Diese Frage kann und will ich eigentlich nicht beantworten. Gigolo ist in einer sehr guten Verfassung. Was in Sydney sein wird, müssen wir abwarten. Ich hoffe, dass wir unsere optimale Leistung bringen können. Wir haben sicherlich unsere Chancen. Man kann den Kreis derer eingrenzen, die um die Einzelmedaillen kämpfen. Im Übrigen sage ich immer: Olympische Spiele haben ihre eigenen Gesetze und sind nicht mit anderen Championaten vergleichbar. Es kann alles passieren, deshalb bin ich mit Prognosen sehr vorsichtig.

ABENDBLATT: Sie sagten einmal, einen wie Gigolo würden Sie nie wieder finden. Gibt es eine Isabell Werth ohne Gigolo.

WERTH: Das ist immer eine Zeiterscheinung. Irgendwann geht jede Karriere zu Ende, auch Gigolos. Wir dürfen nicht den Fehler machen und nach einem zweiten Gigolo suchen, sondern wir müssen versuchen, dass ein anderes, junges Pferd vielleicht einmal in seine Fußstapfen treten kann.

ABENDBLATT: Was macht die Beziehung zu Gigolo so besonders?

WERTH: Ich reite ihn jetzt schon so lange, in der Zeit ist so manche Ehe schon geschieden worden. Wir haben gemeinsam unglaublich viel erlebt, das schweißt einfach zusammen.

ABENDBLATT: Gibt es in der Beziehung auch "Ehekrisen"?

WERTH: Klar, die gibt es auch. Mit Gigolo gab es, Gott sei Dank, keine größeren Krisen. Er ist einfach ein tolles Pferd, ein absolutes Ausnahmepferd. Wenn er das nicht wäre, dann würde er mit seinen 17 Jahren sicherlich auch nicht mehr mit diesen Go, diesem Eifer gehen.

ABENDBLATT: Wie wichtig ist es Ihnen, die Kontrolle zu haben?

WERTH: Natürlich muss man die Kontrolle haben, aber nur so weit, dass man das Engagement des Pferdes kontrolliert, ohne dass man zwanghaft Einfluss nimmt und richtig dagegen anarbeitet. Manchmal habe ich natürlich gerne Kontrolle, besonders dann, wenn ich sie nicht habe. Sonst bin ich aber sehr tolerant, mag es, wenn andere Leute ihren eigenen Kopf haben und sagen, was sie wollen.

ABENDBLATT: Sie beginnen frühmorgens mit dem Training und sind bis abends mit Ihrem Sport beschäftigt. Können Sie sich vorstellen, außerhalb des Reitstalls einmal mit einem menschlichen Wesen so viel Zeit zu verbringen?

WERTH: Das ist momentan wirklich nicht so ganz vorstellbar. Ich bin einfach eine große Unabhängigkeit gewohnt, bin viel unterwegs und muss niemandem Rechenschaft ablegen. Wenn ich jetzt so einen gewissen Rhythmus haben müsste, wäre das ein komplett anderes Leben, das ich mir derzeit noch nicht vorstellen kann.

ABENDBLATT: Wollen Sie nach Ihrer Karriere einmal eine Familie gründen?

WERTH: Für später ist das sicherlich ein Lebensziel. Irgendwann ist es auch automatisch so, dass sich die Lebensziele anders gewichten. Zurzeit kommt es aber noch nicht in Frage.

Interview: ACHIM LEONI und JANINA MÜLLER