Von MARCO FINETTI

"Bedrückend" war wohl das am häufigsten gebrauchte Wort, als vergangene Woche in Bonn eine "Task-Force" der deutschen Wis-senschaft ihren Abschlussbericht im "Fall Herrmann / Brach" vor-stellte. Was viele Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde befürchtet, aber nicht laut ausgesprochen hatten, steht nun zweifelsfrei fest: Der spektakulärste Betrugs- und Fälschungsskandal in der Geschichte der deutschen Wissenschaft hat noch weitaus größere Dimensionen, als bisher bekannt war.

Ein Blick zurück: Als der "Fall Herrmann / Brach" im Mai 1997 bekannt wurde, war zunächst nur von einigen wenigen Forschungsarbeiten die Rede, die der Ulmer Krebsforscher Friedhelm Herrmann und seine frühere Mitarbeiterin und Lebensgefährtin, die Lübecker Professorin Marion Brach, manipuliert haben sollten. Kurze Zeit später hatte eine "Gemeinsame Untersuchungskommission" des Berliner Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin sowie der Universitäten Freiburg, Lübeck, Mainz und Ulm - dort hatten Herrmann und Brach seit Mitte der achtziger Jahre gearbeitet - bereits mehrere Dutzend verdächtige Arbeiten ausgemacht. Im Frühjahr 1998 waren es dann schon 47 Publikationen, die "mit Sicherheit oder hoher Wahr-scheinlichkeit manipuliert" wor-den waren.

347 Arbeiten untersucht

Jetzt, weitere zwei Jahre später, ist klar: Herrmann und Brach haben noch weit mehr manipuliert. 347 Forschungsarbeiten hat die Task-Force unter der Leitung des Würzburger Zellbiologen Ulf Rapp in den beiden vergangenen Jahren unter die Lupe genommen - praktisch das gesamte wissenschaftliche Werk Friedhelm Herrmanns und seiner wichtigsten Co-Autoren. In nicht weniger als 65 Arbeiten fanden sich dabei "konkrete Hinweise auf Datenmanipulationen, in 29 Arbeiten konnte die Task-Force sogar eindeutige Fälschungen nachweisen. 94 Veröffentlichungen aus der Feder von Herrmann gelten damit als "inkriminiert", wie es in dem Abschlussbericht heißt. Anders ausgedrückt: Mehr als jede vierte Arbeit des Krebsforschers war manipuliert.

Bei nicht weniger als 121 weite-ren Publikationen besteht zumin-dest ein "Anfangsverdacht" auf Manipulationen, der im Laufe der Untersuchung nicht ausgeräumt werden konnte. "Es ist also wahr-scheinlich, dass es noch weit mehr Manipulationen gab", unterstrich deshalb auch Task-Force-Chef Ulf Rapp bei der Präsentation des Abschlussberichts.

Dies dürfte auch deshalb schon der Fall sein, weil die Task-Force aus Zeit- und Geldgründen vor allem die Abbildungen in den For-schungsarbeiten überprüfte und die Laborprotokolle mit den später publizierten Ergebnissen verglich. Dagegen war es ihr beispielsweise nicht möglich, einzelne Messreihen der Krebsforscher zu wiederholen. So könnten weitere Manipulationen unentdeckt geblieben sein.

Doch damit nicht genug: Der bis zum Bekanntwerden des Skandals als "Shootingstar" unter den deutschen Krebsforschern gefeierte Herrmann hat offenbar auch über einen weit längeren Zeitraum manipuliert als bislang angenommen - ohne dass etwa die Gutachter der Fachzeitschriften und Förderge-sellschaften Verdacht schöpften. "Die erste Arbeit mit konkretem Fälschungsverdacht ist von 1985, die erste eindeutig manipulierte Arbeit von 1988", stellt die Task-Force fest. Auch insofern verwundert die Einschätzung von Ulf Rapp nicht: "Das ist ein Schaden, der nicht wieder gutzumachen ist."

Auch bei Herrmanns Mitarbeiterin Marion Brach brachte die Untersuchung dramatische Zahlen zutage: Von 81 überprüften Veröffentlichungen wiesen 54 konkrete Hinweise auf Manipulationen oder eindeutige Fälschungen auf. Auch in Brachs Habilitationsschrift fanden sich "Hinweise auf Unregelmäßigkeiten".

Und als ob selbst dies alles noch nicht ausreichte, wurden auch im Umfeld von Brach und Herrmann deutlich mehr Manipulationen ausgemacht, als bislang bekannt war. Neben zwei bei Herrmann habilitierten Nachwuchsforschern ist dabei vor allem der angesehene Freiburger Mediziner Roland Mertelsmann ins Visier der Task-Force geraten. Er war zum einen an 58 der 94 "inkriminierten" Arbeiten Herrmanns beteiligt. Vor allem aber fand unter Mertelsmanns Leitung in Freiburg eine klinische Studie mit Krebspatienten statt, bei der die Task-Force ebenfalls "eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten und einen Hinweis auf mögliche Datenmanipulationen" entdeckte. Damit könnte der Skandal eine neue Dimension erhalten - denn anders als bei Herrmanns Arbeiten in der Grundlagenforschung könnten damit erstmals in Deutschland auch Patienten von wissenschaftlichen Manipulationen betroffen sein. Sowohl die Freiburger Universität als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) kündigten denn auch gleich weitere Untersuchungen an.

Selbstreinigungskraft

Aus Sicht der DFG ist die Arbeit der Task-Force im Übrigen "ein Beleg für die oft geforderte Selbstreinigungskraft der Wissenschaft", wie Generalsekretär Reinhard Grunwald bei der Präsentation des Abschlussberichts betonte. Dass es mit dieser Selbstreinigungskraft jedoch noch längst nicht zum Besten bestellt ist, zeigen einige Erfahrungen der Task-Force. "Viele Wissenschaftler haben sich schlicht geweigert, mit uns zusammenzuarbeiten", berichtete Ulf Rapp. Deshalb sei es oft nicht möglich gewesen, die Entstehung von Forschungsarbeiten und den Anteil der jeweiligen Autoren zu rekonstruieren. Auch deshalb dürfte das ganze Ausmaß des Skandals wohl niemals aufgedeckt werden.

Ebenfalls bei der Präsentation des Task-Force-Berichts wurde schließlich bekannt, was aus den beiden Protagonisten des Skandals geworden ist. Friedhelm Herrmann, der im Juni 1998 auf seine Ulmer Professur verzichtete, praktiziert heute als Arzt in München; Marion Brach, die bereits im September 1997 ihren Lübecker Lehrstuhl verlor, ist derzeit ohne Anstellung.

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