Von FRANZ-JOSEF HUTSCH

An diesem Tag schwelten im Süden des Kosovo in Velika Krusa noch immer die Dachstühle. Vier Tage vorher hatten serbische Paramilitärs im Morgengrauen dem weißen, steinernen Löwen vor der Bar an der Hauptstraße den Kopf abgeschlagen, hatten Schergen des Franko Simatovic hinter dem grünen Hoftor des Hauses 48 ein Schaf gegrillt und gegessen. An diesem 31. März 1999, so erinnert sich Rexhep (45), haben wilde Hunde an den Leichen erschlagener, erschossener und vergewaltigter Albaner genagt. Und vom nahen Berghang habe ein Vogel gezwitschert.

1400 Kilometer nördlich von Velika Krusa in Bonn "elektrisiert" an diesem Mittwoch ein Hinweis den deutschen Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Offenbar liegen Beweise dafür vor, schreibt er in sein Tagebuch, "dass das jugoslawische Vorgehen im Kosovo einem seit langem feststehenden Operationsplan folgt". Fünf Tage später erhält Scharping von Joschka Fischer "ein Papier, das die Durchführung der ,Operation Hufeisen' belegt".

Dieser so genannte Hufeisenplan wurde fortan in Bundestagsdebatten, Pressekonferenzen und Diskussionen zum Synomym für die unbestreitbaren Gräueltaten, die serbische Sicherheitskräfte im Kosovo verübten. Kriegsgegner wurden mundtot gemacht, die kritisierten, dass die Vertreibungen im Kosovo in großem Umfang erst nach dem Abzug der OSZE-Beobachter und mit Beginn der NATO-Luftangriffe begonnen hätten. Ein lang vorbereiteter Plan Milosevics zur ethnischen Säuberung des Kosovo erstickte solche Argumente im Keim. Aber gab es den "Operationsplan" namens Hufeisen überhaupt?

"Die Widersprüche in der Beweisführung des Verteidigungsministers sind so groß, dass man begründete Zweifel an der Existenz eines solchen Dokuments haben muss", schreibt Heinz Loquai in seinem Buch: "Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg". Der frühere General beschäftigt sich seit vier Jahren bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Wien mit Fragen der Rüstungskontrolle in Bosnien-Herzegowina. Er war deutscher militärischer Berater der OSZE im Stab für vertrauensbildende Maßnahmen und damit auch zuständig für die unbewaffneten Beobachter, die den Waffenstillstand zwischen der albanischen Kosovo-Befreiungsarmee UCK und den serbischen Sicherheitskräften aus dem Oktober 1998 überwachen sollten.

Den ersten Patzer leistete sich der Generalinspekteur der Bundeswehr, Hans Peter von Kirchbach, als er am 8. April die "wesentlichen Ergebnisse der Auswertung des ,Hufeisen'-Planes" vorstellte. Der Plan, so las er vor, heiße "Potkova". Das ist das kroatische Wort für Hufeisen, das serbische Wort heißt "Potkovica". "Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass das serbische Militär in kroatischer Sprache einen solchen Plan verfasst?", fragte Gregor Gysi (PDS) im Bundestag.

Loquai stellte weitere Widersprüche fest. Am 19. April sagte Scharping in einer Sondersendung der britischen BBC: "Das klare Ziel (des Hufeisenplans) ist die ethnische Säuberung des Kosovo und die Vertreibung der Zivilbevölkerung." In der gleichen Sendung erklärte der NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark, von einem solchen Plan nichts zu wissen. Loquai fragt: "Warum hat der deutsche Verteidigungsminister sein Wissen nicht an die Bündnispartner und die NATO weitergegeben?"

Der frühere Brigadegeneral stellt zudem fest: "Nach Scharping enthält der Plan alle Einzelheiten bis ,zur Nennung aller dafür einzusetzenden jugoslawischen Einheiten'". Auf der vom Führungsstab der Streitkräfte (FüS) erstellten Dokumentation im Internet (http://www.bundeswehr.de/kosovo/hufeisen.html) heißt es, der Plan ist "in seinen Details allerdings nicht bekannt". Hauptziel der Operation Hufeisen ist aus Sicht der Geheimdienstexperten "die Zerschlagung bzw. Neutralisierung der UCK im Kosovo".

Erstaunlich ist auch die Rede von Außenminister Joschka Fischer vor dem Bundestag am 15. April - zehn Tage zuvor hatte er die Unterlagen, die die so genannte Operation Hufeisen belegen sollen, an Scharping übergeben. Fischer: "Sie mögen den Plan nennen, wie Sie wollen. Entscheidend ist doch die Frage, dass es bereits im letzten Jahr angefangen hat."

Recherchen des Abendblatts erhärten Loquais These, dass der Hufeisenplan dem Verteidigungsminister gar nicht vorgelegen hat. "Wir haben nie behauptet, dass es einen fertigen Plan gibt", sagt ein hoher Offizier des Verteidungsministeriums süffisant lächelnd. Letztendlich habe eine "Analyse gewisser Nachrichtendienste" vorgelegen, nie etwas "aus erster Hand".

Österreichs Ex-Außenminister und heutiger Bundeskanzler Wolfgang Schüssel räumte im April 99 ein, er habe Informationen des österreichischen Heeresnachrichtenamtes (HNA) "an die Außenminister der EU-Staaten" weitergegeben. Österreichs früherer Verteidigungsminister Werner Fasslabend antwortet auf eine Anfrage der Grünen, die Skizzen der Bundeswehr im Internet "stellen nicht Planungen der Operation ,Potkova' dar, sondern eine grafische Aufarbeitung der von Januar bis April 1999 aus offenen Quellen erkennbaren Ereignisse".

Ein österreichischer Geheimdienstmitarbeiter sagt, bei den Joschka Fischer überlassenen Papieren habe es sich um "unstrukturiertes, analytisches Material eines Wissenschaftlers des bulgarischen Geheimdienstes" gehandelt, das die Ereignisse im Januar und Februar 1999 wiedergebe. Zudem habe das HNA in seiner Abhörstation Königswarte bei Hainburg den militärischen Funkverkehr in Jugoslawien abgehört. "Auch diese Erkenntnisse sind nach Bonn gegangen."

Dort waren die Nachrichtenexperten des Referates FüS II 3 noch kurz vor dem Krieg zu ganz anderen Ergebnissen gekommen, als sie Scharping dem Bundestag und der Öffentlichkeit im April präsentierte. Nach Darstellung Scharpings ist der angebliche Hufeisenplan "von Milosevic und seinem Regime vorbereitet, seit November 1998 organisiert und während der Verhandlungen von Rambouillet begonnen" worden. Dazu seien die "jugoslawischen Kräfte erheblich verstärkt" worden.

Unmittelbar vor Beginn der Luftangriffe heißt es in einem Lagebericht des FüS II 3: Es "gibt keine Anzeichen für den Beginn einer Großoffensive gegen die UCK". Es gebe örtlich und zeitlich begrenzte Operationen, die auch in den nächsten Tagen anhalten würden. "Zu einer groß angelegten Offensive gegen die UCK im gesamten Kosovo sind Armee und Polizei auch noch nicht fähig", heißt es weiter in dem Papier. Um die Offensive Kosovo-weit zu führen, bedürfe es einer umfangreichen Verstärkung durch Infanteriekräfte.

Scharpings Fachleute sagten voraus, die UCK werde versuchen, durch ihre bisher "angewandte Hit-and-Run-Taktik (serbische) Polizei und Militär zu massiven Reaktionen zu provozieren", um durch das Ausmaß an Zerstörungen und Flüchtlingen Luftangriffe der NATO auszulösen. Ähnlich folgert das deutsche Außenministerium in seinem Lagebericht vom 19. März.

"Die Politiker haben die ihnen vorliegenden geheimdienstlichen Analysen wohl ein wenig überzeichnet", bewertet ein deutscher Nachrichtenoffizier die bevorzugte Behandlung der angeblichen ,Potkova'-Unterlagen. Fortan wedelte Scharping bei Diskussionen mit Kriegsgegnern mit dem imaginären Plan und fragte rhetorisch: "Soll ich Ihnen den Hufeisenplan zeigen?"

Die deutsche Öffentlichkeit würde ihn gerne sehen. Dieser Hufeisenplan war schließlich auch das Instrument, mit dem der Verteidigungsminister den ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach 1945 vor dem Parlament und der Öffentlichkeit rechtfertigte. Nicht auszudenken, wenn er sie getäuscht hätte.