Über Jahrhunderte galt Judas als Verräter schlechthin. Zu Unrecht? Neue Forschungen sehen den Jünger von Jesus in einem menschlicheren Licht. Ein Essay von Wolfgang Teichert.

Judas" haben sie ihm zugerufen. Umweltminister Jürgen Trittin musste sich diesen Zuruf bei seinem jüngsten Auftritt in Celle vor dem niedersächsischen Landesverband der Grünen anhören. Er sei ein "Judas", weil er sein Wahlversprechen verraten habe, unverzüglich aus der Atomnutzung auszusteigen.

Auch Wolf Biermann nannte die Staatssicherheit (Stasi) eine Judasorganisation. Wer ist Judas?

Er ist eine Figur der Bibel. Eine ziemlich dunkle Figur. Judas, der bekannte Verräter. Wer "Judas" hört und jemanden damit bezeichnet, denkt an "Verrat". Und das nicht zufällig. Es gibt gute (biblische) Gründe dafür.

Judas' Name wird fast immer mit einem Zusatz gebraucht: Der ihn verriet.

Mit "ihn" ist die Zentralfigur des Neuen Testaments gemeint: Jesus. Und es gibt kein rätselhafteres Verhältnis, keine abgründigere Beziehung als die zwischen Jesus und Judas. Denn Jesus hatte ja Judas eigenhändig in seinen Jüngerkreis geholt. Er hatte ihm also vertraut. Und weil das Christentum sich selbst als Vertrauensreligion versteht, musste sie nichts weniger schmerzen als Verrat in den eigenen Reihen.

Die ersten Christen haben jedoch diese schlimme Kränkung ihrer noch jungen Gemeinde nicht vertuscht, sondern aufgeschrieben. Sie haben Judas deshalb nicht verleugnet, weil sie eine der bittersten und zugleich wahrsten Erfahrungen in und mit Judas gemacht haben: Verrat. Aber, so merkten sie bald, verraten werden wir und verraten tun wir nur dort, wo wir vertraut, geglaubt oder sogar geliebt haben. Von unseren Feinden erwarten wir nichts anderes.

Judas gehört zu den Jüngern Jesu. Aber alle vier Evangelisten schildern Judas unterschiedlich. Je weiter sie von dem Ereignis zeitlich entfernt sind, desto dämonischer und schlimmer wird Judas: Oder anders gesagt: Je geringer die zeitliche Distanz zu den berichteten Ereignissen, desto sparsamer die Information, desto blasser das Judasbild, desto vorsichtiger die Urteile.

Markus, der älteste Evangelist, sieht in Judas nur einen übereifrigen Jünger. Der ist ungeduldig und möchte, dass Jesu wahre Identität als Messias und Retter des Volkes möglichst gleich ans Licht kommt. Da hilft Judas eben ein bisschen nach, indem er Jesus an die Behörden ausliefert in der Hoffnung, Jesus werde sich nun offenbaren als starker Held. Zu dieser Tat sind nach Markus aber alle Jünger fähig.

Matthäus, wenig später, verschärft das Judasbild: Dort ist Judas der Geldgierige, der auf den "Judaslohn" aus ist. Judas verkaufe Jesus, wie man einen Sklaven verkauft. Deshalb ist bei Matthäus allein Judas der schlimme Täter.

Lukas behauptet Schlimmeres: In Judas sei der Teufel gefahren und habe ganz und gar von ihm Besitz ergriffen. Judas sei nun das Werkzeug des Teufels, ein vom Teufel Besessener. Als vom Satan Besessener hat Judas bei Lukas nicht einmal mehr einen Namen. Wer vom Teufel besessen ist, verliert eben seinen eigenen Namen. Im Johannesevangelium schließlich ist Judas ein ganz und gar schlechter Mensch. Johannes nennt Judas den "Sohn des Verderbens". Und solche Menschen sind eben geldgierig und satanisch. Also Judas wird immer schlimmer dargestellt. Die böse Tat wird auf einen einzigen abgespalten.

Ein Detail fällt besonders auf: Die drei ersten Evangelien berichten davon, dass Judas Jesus bei der Auslieferung an die römischen Behörden küsst. Ist dieser Kuss ein Liebeszeichen? Der sprichwörtlich gewordene "Judaskuss" gehört eher in den unerotischen Bereich. Missbrauch sei hier angesagt, meinen viele Interpreten des Judaskusses. So hat vor allem Lukas diesen Kuss deuten wollen. Darum lässt er Jesus sagen, was in Wahrheit seine eigene Empörung ist: "Judas, mit einem Kuss verrätst du den Menschensohn?" Folgt man Lukas, dann hat Judas die schönste zwischenmenschliche Annäherung, den Kuss, im Judaskuss, missbraucht. Andere Interpretationen sagen, der Kuss sei schlicht ein Begrüßungszeichen zwischen Meister und Schüler gewesen, ein übliches Begrüßungsritual.

Aber die Sache mit dem Kuss zwischen Judas und Jesus ist doch bedeutungsvoller. Nicht einfach: hier Liebender, dort Verräter. Auch Judas ist, wie sein Kuss zeigt, erst einmal ein Liebender. Er wollte Jesus wahrscheinlich retten: Denn Jesus drohte zu scheitern bei seinen eigenen Jüngern. Die wollten einen strahlenden Messias und keinen vom Tod bedrohten Menschen. Retten wollte Judas Jesus auch vor dem Scheitern beim Volk. Denn ein Volk ruft heute "Halleluja" und morgen "Kreuzige ihn". Schließ lich wollte er ihn auch retten vor dem Scheitern bei Gott, denn selbst der himmlische Vater drohte Jesus zu verlassen, wie es denn auch im Kreuzesschrei zum Ausdruck kommt: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen." Das alles wollte Judas verhindern.

Walter Jens hat in einem Judasmonolog, in dem er auf die jüdische Geschichte in Deutschland anspielt, den Verräter auch als einen Liebenden verstanden: "Ich ging auf ihn zu, sehr langsam, beinah bedächtig, er lächelte, ich küsste ihn, und wir umarmten einander. ER und ICH. Der letzte Liebesbeweis: Judas aus Kerioth küsst seinen Herrn. Und er, Jesus von Nazareth, sagte zu mir: "Mein Freund". Ja, wir gehörten zusammen, wir zwei.

In der literaturgeschichtlichen und theologischen Forschung der neueren Zeit sieht man Judas denn auch menschlicher. Er wird nicht einfach mehr zum Teufel gemacht: Tat und Täter sind nicht mehr so eindeutig verteilt. Das heißt: Auch Jesus ist an dem Kuss beteiligt. Für Jesus freilich hat der Kuss eine andere Bedeutung als für Judas: Für den Kenner der jüdischen Tradition bedeutet der Kuss ein ahnungsvolles Zeichen. Der Gerechte nämlich stirbt an einem Kuss Gottes ("Mith bi-Neschika"). Es ist die Ironie dieser Szene, dass Jesus als sanftes Todeszeichen deutet, was Lukas und andere nur als schändliche Tat bezeichnen können.

Man muss wohl heute sagen: In Judas begegnet Jesus trotz allem der Freund, aber eben auch der Tod. Im Kuss wird Judas einerseits zum Bruder, aber andererseits auch zum Überbringer eines Zeichens für Jesus. Der Kuss ist also nicht zuerst das Zeichen für die Polizisten, die "Häscher". Nur dann kann man Jesu Worte verstehen, die er zu Judas sagt: "Darum bist du gekommen, mein Freund." Freund sagt er, und wird es auch so gemeint haben.

Judas ist also besser, freilich auch unverstandener, als sein Ruf. Fatalerweise heißt Judas auch noch Judas. Hätte er Simon geheißen oder Samuel, dann hätte man ihn im Laufe der Geschichte nicht mit "den Juden" gleichsetzen können. So aber wurde Judas zum Sündenbock und Prügelknaben. Er diente in der Religions-, Kultur- und Kunstgeschichte - von wenigen Ausnahmen abgesehen - als Blitzableiter für alle erdenklichen Schlechtigkeiten, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Judas war eine Projektionsfigur, auf die man abladen konnte, was man nicht gern auf eigenem Grundstück hat. Man kann verstehen, dass jüdische Theologen fragen: Könnten viele Juden heute noch am Leben sein, wenn Judas nicht Judas geheißen hätte?