Die Welt im Millennium-Fieber: Die Magie der Zahl 2000 zieht Milliarden Menschen in den Bann. War das vor 1000 Jahren genauso? Angeblich herrschte in Europa “Endzeitstimmung“. Historiker haben diese Legende überprüft und kommen zu ganz anderen Ergebnissen.

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ANGELA GROSSE

Mit heftigen Windböen und einer eiskalten Nacht soll sich das Jahr 999 verabschiedet haben. Ausgemergelte, zerlumpte Frauen und Männer sollen, von Angst gepeinigt, in Kirchen und Klöstern ausgeharrt und den Weltuntergang erwartet haben.

Der burgundische Mönch Raoul Glaber, der im Jahr 1047 starb, beschrieb die erste Jahrtausendwende in einem fünfbändigen Werk mit dramatischen Szenen. Doch haben sie wirklich stattgefunden? Hartnäckig hält sich die Überzeugung, im Mittelalter sei der Glaube weit verbreitet gewesen, "dass die Welt mit dem Jahr 1000 nach der Fleisch- werdung Christi an ihr Ende gelange", wie auch der französische Historiker Jules Michelet (1789-1874) im vierten Band seiner 17-bändigen "Histoire de France" betont, wobei er sich auf Raoul Glaber beruft.

Mönche wie Glaber kannten die "Offenbarung" des Johannes, der schreibt: "Wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan los werden aus seinem Gefängnis und wird ausgehen, zu verführen die Heiden an den vier Enden der Erde . . . Und ich sah einen großen, weißen Stuhl und den, der darauf saß; vor dessen Angesicht floh die Erde und der Himmel, und ihnen ward keine Stätte gefunden. Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und die Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken." Die Mönche wussten zudem von der Verheißung Daniels, die um 165 v. Chr. geschrieben worden war. In einem Traum habe der Jude Daniel vier furchtbare Tiere aus einem aufgewühlten Meer steigen sehen: einen Löwen mit Adlerflügeln, ein bärenartiges Wesen, einen vierköpfigen geflügelten Panther und ein Monster mit eisernen Zähnen. Kirchenvater Hieronymus (um 345-420) deutete dieses als Abfolge einander ablösender Weltreiche, auf die das Weltende und das Jüngste Gericht folgten.

Das Herannahen der Jahrtausendwende war von Unwettern begleitet. Sintflutartige Regenfälle zwischen Lothringen und dem Rheinland (987), glühende Sommerhitze und orkanartige Stürme (988), extrem trockene Sommer in Deutschland, Frankreich und Italien (990), tosende Herbststürme in Deutschland und Italien (992) und extrem frühe Winter (993/994) notierten die Chronisten. Epidemien und Hungersnöte suchten das Abendland heim, berichtet der italienische Historiker Franco Cardini in seinem neuen Buch "Zeitenwende".

Auch Kriege gab es. Zwischen dem Atlantischen Ozean und den Bergen Kantabriens herrschte der kriegerische Moslem Al Mansur (939-1002), der die Königreiche in Nordspanien immer wieder bedrängte. "Im Sommer 997 marschierte er entlang der portugiesischen Küste nach Galicien, wobei seine Armee von einer Flotte begleitet wurde. Er machte Santiago de Compostela dem Erdboden gleich, wobei er auch die Kirche und den Schrein des hl. Jakobus zerstören ließ", schreibt Franco Cardini. Die Zerstörung dieser Heiligtümer, die in jedem Jahr von Tausenden von Pilgern besucht wurden, wurde als ein weiterer Beweis für das Nahen des Weltunterganges gewertet, so Cardini.

Aber waren die Europäer um 1000 wirklich in Angst und Schrecken versetzt? Lebten die Menschen wirklich im Schatten des Weltunterganges und in der Erwartung des Jüngsten Gerichtes?

Cardini versucht, sich die Vorstellung des französischen Historiker Jules Michelet zu vergegenwärtigen, und skizziert faktenreich den Hintergrund, vor dem Michelet seine Weltuntergangsthese entwickelte.

Und Cardini zeigt nicht ohne Ironie, dass es für das gemeine Volk nahezu unmöglich war, überhaupt zu wissen, wann das erste Jahrtausend nach Christi Geburt zu Ende ging. Der Grund, der Michelet entgangen sein muss, ist einfach: Zwar gab es seit dem sechsten Jahrhundert einen christlichen Kalender, aber dieser war nicht allgemein anerkannt, und auch der Zeitpunkt des Jahreswechsels wurde von Ort zu Ort unterschiedlich bestimmt.

Auch der Kulturwissenschaftler Hermann Glaser schreibt, es sei "unwahrscheinlich (. . .), dass gerade um die Jahrtausendwende eine weit verbreitete, tief greifende Weltuntergangsstimmung vorherrschte". Als Beispiel nennt er die Stadt Regensburg, neben Köln die wichtigste deutsche Stadt bis zum 13. Jahrhundert mit etwa 40 000 Einwohnern. In Regensburg endete das Jahr 1000 an einem Tag, der ohne besondere Vorkommnisse wie jeder andere verlaufen sei; eine besondere Furcht vor Anbruch des Jüngsten Tages sei nicht überliefert.

Warum auch, darüber waren sich doch selbst die Theologen nicht einig. Einige warnten eindringlich, die Offenbarung des Johannes wörtlich zu nehmen. Sie beriefen sich auf den heiligen Augustinus (354-430): In seiner Schrift "Gottesstaat" hatte er mit der Vorstellung, man könne das Ende der Welt und das Jüngste Gericht exakt vorhersagen, gründlich aufgeräumt. Die Offenbarung des Johannes werde zwar eintreten, glaubte er, aber wie und in welcher Reihenfolge, das werde die Erfahrung lehren.

Und die Naturkatastrophen, von denen die Chronisten berichten, waren sie keine Zeichen? Die Aufzeichnungen bezögen sich auf regionale Ereignisse und besäßen somit keine Allgemeingültigkeit, resümiert Franco Cardini. Im Gegenteil, das Klima um die Jahrtausendwende verbesserte nördlich des Mittelmeeres sogar die Voraussetzungen für gute Ernten. Es bewirkte einen Rückgang jener Krankheiten, die mit Kälte und Feuchtigkeit einhergingen. Die Ergebnisse der Klimaforschung "widersprechen der Annahme einer ungewöhnlichen Instabilität, wie sie durch schriftliche Quellen vermittelt wird", lautet Franco Cardinis Urteil.

Die Quintessenz sei, so der Kulturgeschichtler Thomas Macho: Das Jahr 1000 fand nicht als überall gleichartig bewertetes Ereignis statt. Es gab 999 keinen Countdown. Die Bevölkerung des Abendlandes schlitterte ins neue Jahrtausend, sie betrat es nicht.

Schon 1904 wies der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset (1883-1955) in seiner Doktorarbeit nach, dass die Legende von den Schrecken des Jahres 1000 "vollständig unwahr" sei, sie "lässt sich nicht - und ließ sich nie - aufrechterhalten". Warum entstand also die Legende vom gottgewollten Schreckensszenario? Nachdem sie einmal gebildet war, so Ortega y Gasset, "setzte sie sich ungehindert durch, weil sie wunderschön war."

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des Hamburger Abendblatts:

Der Streit um den Beginn

des neuen Jahrtausends

Es gab 999 keinen Countdown. Die Bevölkerung des Abend- landes schlitterte ins neue Jahrtausend, sie betrat es nicht.

Sintflutartige Regenfälle, glühende Sommerhitze und orkanartige Stürme kündigten die Jahrtausendwende an.