Von ANDREAS ODEWALD

Viel Bier wird fließen, aber auch so manche Träne. Gestandene Mannsbilder, die sich nach Jahren wiedersehen, werden einander gerührt umarmen, auf die Schulter klopfen und "Weißt du noch?" stammeln. Und der wehmütige Blick zurück auf glorreiche Tage wird dem einen oder anderen Musiker, der sonst gewohnt ist, seine Zuhörer souverän zu unterhalten, das Tremolo in die Stimme treiben und ihn zu einer gefühlvollen Festrede anheben lassen.

Eine "sentimental journey" in die 70er-Jahre ist garantiert, wenn der Hamburger Pianist Gottfried Böttger heute Abend in der Altonaer Fabrik (Einlass 19, Beginn 20.30 Uhr) mit Freunden, Kollegen, Weggefährten und Fans seinen 50. Geburtstag feiert. Das zahlende Publikum darf sich auf eine nostalgische Zeitreise freuen: zurück in die einst heftig pulsierende, in ganz Deutschland bestaunte so genannte "Hamburger Szene", deren Mythos am Ende dieses Jahrhunderts dem der "goldenen Zwanziger" von Berlin schon ziemlich nahe kommt.

90 Musiker hat Böttger eingeladen. "Fragen Sie lieber, wer nicht kommt, das ist schneller zu beantworten", sagt der Jubilar stolz: Otto Waalkes zum Beispiel. Der liegt in Florida in der Sonne und dürfte so ziemlich der Einzige sein, den man vermisst.

Höhepunkt des Abends soll der Auftritt der legendären Rock-Skiffleband Leinemann in ihrer Originalbesetzung von 1969 sein: Böttger, Ulf Krüger, "Django" Seelenmeyer, Uli Salm, Jerry Bahrs. Weitere Urgesteine der Szene haben zugesagt, sich aktiv ins Festgeschehen einzuklinken: Udo Lindenberg, in dessen Panikorchester Böttger einst auch die Tasten drückte, die Blues- und Gospelsängerin Inga Rumpf, die Ur-Rattles um Achim Reichel und Herbert Hildebrandt, der einstige Szene-Kumpel und Freund Lorenz Westphal

("Hoffentlich bringt er seine Geige mit"), Lästerlyriker Hans Scheibner, Gottfrieds Boogie-Woogie-Bluesbrüder aus dem Elbe-Delta, Vince Weber, Joja Wendt und Jo Bohnsack.

Und einer "schaut von oben zu", hofft das Geburtstagskind. Gemeint ist der vor einigen Jahren in die ewigen Jagdgründe abgewanderte einstige Waterkant-Rockpoet und spätere NDR-Moderator Willem, der mit bürgerlichem Namen Wilken F. Dinklage hieß und wenn nicht der Vater der Hamburger Szene, so doch vorübergehend ihr Herbergsvater war. Willem, gesegnet mit mächtiger Statur, einer verführerisch tiefen Stimme und der seltenen Gabe, Rockmusik mit Seemannsprosa zu verbinden war Anfang der 70er-Jahre Hausherr in einer großen schmucken Villa am Rondeel an der Außenalster.

Da er ein großes Herz für aufstrebende Musiker mit schmalem Geldbeutel hatte, vermietete er Zimmer. Die Liste seiner Untermieter liest sich wie ein Who's Who? der Hamburger Musiker-Boheme aus der Nach-Apo-Epoche. Unter dem Dach der "Pop-Villa", wie sie in der Szene alsbald genannt wurde, hausten, musizierten, alberten und feierten oft bis in die frühen Morgenstunden: Otto Waalkes, bis dato nur Kleinkunst-Insidern in Hamburg ein Begriff, dessen Manager und Freund Hans-Otto Mertens, Bassist und abgebrochener Pharmaziestudent, der in der Musikbranche geschickt die Fäden zog, und ein nuschelnder Westfale, der beim Jazzer Klaus Doldinger Schlagzeug gespielt und soeben mit der ersten wirklich originellen deutschsprachigen Rock-LP "Daumen im Wind" auf sich aufmerksam gemacht hatte: Udo Lindenberg.

Mittendrin, anzutreffen meistens am Flügel in Willems Salon, von Freunden und Frauen bewundert: Gottfried Böttger, der stattliche, schnauzbärtige Arztsohn aus Harvestehude, der die 88 Tasten seines Instrumentes erfrischend und undogmatisch bearbeitete. Klassisch ausgebildet, fand er zu einem ganz eigenen, unerhörten und für Puristen-Ohren ungehörigen Sound-Profil: Ragtime, Boogie Woogie, Rock'n'Roll, Blues und Jazz.

Es war diese neue und für Hamburger Verhältnisse ungewohnte Offenheit, die das Entstehen und Aufblühen der Hamburger Szene definierte. Böttger heute: "Was wir damals machten, wird inzwischen auf der ganzen Welt praktiziert: das ungenierte Überschreiten der musikalischen Grenzen, wie zwischen Jazz und Rap." Der Vergleich mag etwas hoch gegriffen sein, richtig aber ist: Bis in die 60er-Jahre hatten in Hamburg die Platzhirsche der Jazzer und Rock 'n' Roller ihr jeweiliges Revier noch heftig verteidigt. Nun hieß die Devise: Toleranz. Am gründlichsten haben damals die respektlosen "Leinemänner", die meisten aus Uelzen stammend, mit alten Vorurteilen aufgeräumt. Unverfroren stellten sie Ragtime, Rhythm & Blues und Waschbrett-Skiffle nebeneinander. Schnell avancierten sie zur Hamburger Lieblingsband.

"Bei Onkel Pö spielt 'ne Rentnerband seit 20 Jahren Dixieland" - mit dieser Songzeile aus "Alles klar auf der Andrea Doria" hatte Udo Lindenberg die bierselige Affenliebe der Hamburger Traditionalisten zum Oldtime-Jazz noch kräftig auf die Schippe genommen, nicht ahnend, was er damit auslösen sollte. Wenn die Alstervilla das Wohnzimmer der Szene war, dann war "Onkel Pös Carnegie Hall" ihre Bühne. Mit Leidenschaft und Sachverstand geführt von einem ehemaligen Seemann namens Peter Marxen (der heute am Lütjensee einen angesehenen Landgasthof betreibt), war die stets überfüllte Musikkneipe, die vormals den "Ball der einsamen Herzen" beherbergt hatte, in wenigen Jahren zum Mekka der Hamburger Musikfans aufgestiegen. Einheimische Musiker aus allen Lagern traten am Lehmweg/Ecke Eppendorfer Landstraße vor ihr bunt gemischtes Publikum.

Durch Lindenbergs musikalischen Werbeslogan wurde "Onkel Pö" in ganz Deutschland zum Markenzeichen, und es dauerte nicht lange, bis Touristenbusse aus Böblingen oder Lüdenscheid vor der kleinen Eppendorfer Kneipe Halt machten und Scharen von neugierigen Fans Einlass begehrten, um die "Rentnerband" und Udo Lindenberg zu bestaunen. Die fröhliche und kreative Unbekümmertheit der Anfangsjahre sollte nicht lange anhalten. Angefacht durch eine große Reportage im "Stern", dem der Schreiber dieser Zeilen damals als Musikredakteur diente (Titel: "In Hamburg sind die Nächte wieder lang"), rollte ab Mitte der 70er eine gigantische PR-Welle über die Szene und walzte die Spontaneität nieder. Die Musikbranche stellte jedem nur halbwegs begabten Solisten so lange nach, bis der einen Plattenvertrag unterschrieb.

Genervt setzten sich Otto und Udo in ihre nationalen Karrieren ab. Gottfried Böttger ließ sich unter dem Pseudonym Raggi Ragtime sogar zum Singen überreden ("Der Entertainer"), was ihm nicht unbedingt zum Vorteil gereichte. Sein lockenköpfiger Freund Lonzo Westphal genoss zunächst den frischen Ruhm, verfluchte aber alsbald den Spitznamen, den ich ihm ohne die Folgen zu ahnen im "Stern" verpasste und der ihm anhing wie eine Klette: "Der Teufelsgeiger von Eppendorf". Gottfried und Lonzo: Gemeinsam haben sie damals das schönste und treffendste Lied über die Hamburger Szene aufgenommen, getextet von Hans Scheibner, dem Spötter, der die Zeichen der Zeit früh erkannte: "Hamburg 75, Jungs war das gemütlich. Da schien noch ein richtiger Mond in der Nacht, die Musik haben wir noch mit der Hand gemacht. So was gibt es heute nicht mehr. Ist verdammt lange her."

Heute Abend in der Fabrik scheint der richtige Mond noch einmal.