Rosalinde von Ossietzky wird heute 80 Jahre alt. Ihre Kindheit war geprägt von Armut, einer kranken Mutter und den Haftaufenthalten ihres Vaters, des Hamburger Nobelpreisträgers. Ein Leben in Einsamkeit und Trennung von den Eltern - der Preis für den Kampf Carl von Ossietzkys für Frieden und Demokratie. Erst in Schweden, wo die Deutsche seit 1936 lebt, erfährt sie Zufriedenheit und eigenes Glück.

Der Krieg war gerade vorbei, 1919, als sie geboren wurde, der vorletzte Krieg, der ihren Vater Carl von Ossietzky zum kämpferischen Pazifisten gemacht hatte. So ist auch seine Tochter geworden, Rosalinde von Ossietzky, die heute in Stockholm achtzig Jahre alt wird.

Kurz vor ihrer Geburt ziehen ihre Eltern aus der Hamburger Schmilinskystrasse 6 nach Berlin. Ihr Vater stammt aus dem Gängeviertel am Michel und verdient als Hilfsschreiber am Amtsgericht 360 Mark im Jahr. Das ist vor dem Krieg, 1907. Später wird er Bürogehilfe im Grundbuchamt. Er wird berühmt durch kämpferische Zeitungsartikel, in denen er für Frieden und Demokratie eintritt. Dafür bestrafen ihn die Gerichte im deutschen Kaiserreich und in der Republik immer wieder. Er ist Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft, die damals wie heute ängstlich von den Regierungen beobachtet wird.

Rosalindes Kindheit sind Armut, eine kranke Mutter und das immer drohende Gefängnis für ihren Vater. Nach ihrer Geburt bleibt sie monatelang im "Frauenhaus" des Auguste-Victoria-Krankenhauses, dann wird sie zu ihren Großeltern nach Hamburg gegeben und von einer Amme betreut. Später kommt sie in Kinderheime. "Ich sah meine Eltern nur sehr selten. Im Heim wurden wir viel geschlagen. Das erzählte ich meinen Eltern aber nicht", erinnert sich Rosalinde.

Ihr Vater wird Chefredakteur der "Weltbühne". Im Januar 1931 schreibt er über die heraufziehende Nazigefahr: "Wer aber ist Adolf Hitler? Wie groß muss die geistige Versumpfung eines Volkes sein, das in diesem albernen Poltron einen Führer sieht, also eine Persönlichkeit, der nachzueifern wäre?" Die Ossietzkys sind in dieser Zeit immer noch so arm, dass sie keine eigene Wohnung haben und als Untermieter leben. Ein einziges Mal fährt die Familie Ossietzky in Urlaub: im Juli 1931 in die Niedere Tatra in der Slowakei.

Am 23. November 1931 wird Carl von Ossietzky zu anderthalb Jahren Gefängnis wegen Landesverrats verurteilt. Er hat in der "Weltbühne" unter der Überschrift "Windiges aus der deutschen Luftfahrt" die geheime Aufrüstung aufgedeckt.

Bevor er seine Strafe antritt, bringt er seine Tochter nach Heppenheim in die berühmte Odenwaldschule. "Das war der schönste Tag in meinem Leben", sagt Rosalinde. "Mein Vater nahm sich frei, was sonst nie der Fall war. Dann trafen wir Paul Geheeb, den wunderbaren Menschen." Paul Geheeb, der Gründer der "freien Schulgemeinden", war damals der bekannteste Pädagoge Deutschlands. "Er nahm mich mit in seinen Garten, da hatte er Rehe und Eulen, und eine Eule nannte er Rosalinde. Ich war glücklich."

Nicht lange. Eines Tages geht sie spazieren, ein Radfahrer aus dem Dorf ruft ihr zu: "Ich habe im Radio gehört, dass sie deinen Vater aufgehängt haben." Die Nazis hatten dem "Landesverräter" Ossietzky immer mit dem Galgen gedroht. "Ich habe geschluchzt. Immer hatte ich die Angst, dass sie meinem Vater etwas Entsetzliches antun. In der Schule erzählte ich niemandem davon. Ich habe das ganz tief in mir begraben. Niemand hat mich getröstet."

Dass ihr Vater noch lebt, erfährt sie aus einem Brief, den er ihr geschrieben hat, ehe er am 10. Mai 1932 ins Gefängnis geht: "Du braucht dich dessen nicht zu schämen, und kannst den Kopf hoch tragen - es geschieht alles für eine gute, anständige Sache."

Einmal noch sieht sie ihren Vater. Zu ihrem 13. Geburtstag am 21. Dezember 1932 ist sie zu ihrer Mutter gefahren. Einen Tag später kommt ihr Vater durch eine Amnestie frei. In der Redaktion der "Weltbühne" wird seine Freiheit mit einem Fest gefeiert. "Da waren ungeheuer viele Menschen. Ein Fotograf sagte, ich solle mit meinem Vater fotografiert werden. Und dann lächelte er, und das ist eines der wenigen Bilder, auf denen er lächelt."

Rosalinde fährt zurück in die Odenwaldschule, die Nazis übernehmen die Macht in Deutschland, der Reichstag brennt, die "Weltbühne" wird verboten, ihr Vater kommt ins Konzentrationslager. Rosalinde erhält einen Brief ihrer Mutter: "Liebes Kind, Du musst die Odenwaldschule verlassen. Wir können es nicht mehr bezahlen." Das Kind glaubt, ihr geliebter Paul Geheeb werde sie retten. "Aber er brachte mich nicht einmal zur Eisenbahn. Ich erzählte allen Leuten von meinem Unglück, dass sie meinen Vater ins Gefängnis getan haben. Eine Tante holte mich ab, meine Mutter war in einem Sanatorium."

Eine Zeit lang geht sie noch in Berlin zur Schule. Dann kümmern sich englische Quäker um sie. Im Juli 1933 fährt sie nach England, kommt in ein Internat. Ihrem Vater schreibt sie eine Postkarte ins KZ: "Ich bin froh, dass ich nicht mehr in Deutschland bin." Darauf wird der Vater von einem SS-Truppführer auf die Wachstube geholt und verprügelt, weil er seine Tochter schlecht erzogen habe.

Rosalinde ist in England unglücklich. Der emigrierte österreichische Journalist Kurt Singer lädt sie Ende 1936 nach Schweden ein. Dort erfährt sie, dass ihr Vater den Friedensnobelpreis erhält. Das Komitee vergisst, sie zur Verleihung einzuladen.

An ihrem 18. Geburtstag dürfen ihre Eltern mit ihr telefonieren, und ihre Mutter notiert: "Es war wie ein Sonnenschein, der eine lange Dunkelheit plötzlich erhellt." Es sind die letzten Worte zwischen Vater und Tochter. Carl von Ossietzky stirbt am 4. Mai 1938 im Krankenhaus Nordend in Berlin-Niederschönhausen.

"Der Schuldirektor sagte mir, dass mein Vater gestorben ist. Ich hatte die Nachricht erwartet. All die Tränen hatte ich schon geweint, all die Trauer schon durchgemacht. Ich besaß inzwischen eine Art Stärke und eine furchtbare Wut auf die Faschisten, die diesen zarten Menschen im KZ zu Tode misshandelt haben. Ich wollte mich rächen. Der Rektor sagte mir: Rosalinde, nun muss Schluss sein mit Träumereien und Tanz - ich hatte Theater- und Ballettunterricht - du musst etwas Konkretes arbeiten." Rosalinde hilft in einer Wäscherei. "Da hatte ich die herrlichsten Kameraden. Sie machten mir meine eigene Stärke bewusst." Dann kam noch einmal ein schrecklicher Tiefpunkt, der 1. September 1939, der Krieg. "Ich dachte: Alles ist vorbei, wofür mein Vater gearbeitet hat. Das Leben lohnt sich nicht mehr, du kannst es aufgeben. Ich kam in ein Krankenhaus und lernte dort meinen wunderbaren Mann kennen. Er wusste alles über meinen Vater. Er hatte die gleichen Gedanken. Ich war an die richtige Adresse gekommen."

Rosalinde studiert, wird Sozialarbeiterin, Bewährungshelferin, Sozialpsychologin, sie leitet 16 Jahre den Stockholmer Telefondienst für psychisch Gefährdete. Sie heiratet Björn Palm, er ist Journalist. Sie wird eine glückliche, selbstbewusste Frau, bekommt einen Sohn, Ebbe, der Kunstmaler ist.

Sie entdeckt, dass in Deutschland viele Menschen wie sie denken. Sie spricht auf Friedenskonferenzen. Ist dabei, als die Oldenburger Universität den Namen ihres Vaters bekommt und ebenso die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek. Sie kämpft darum, das Landesverratsurteil gegen ihren Vater aufzuheben. Am 21. Dezember 1992 - Rosalindes Geburtstag - entscheidet der Bundesgerichtshof: Das Urteil des Reichsgerichts von 1931 gegen Carl von Ossietzky habe Bestand und sei keine Rechtsbeugung. Er habe die Sicherheitsinteressen des Deutschen Reiches verletzt. Im Frühling 1993 stirbt ihr Mann.

Der Name ihres Vaters lebt in der Ossietzky-Medaille weiter. Sie wird von der Liga für Menschenrechte verliehen für das, wofür sich Carl von Ossietzky sein Leben eingesetzt hat: Zivilcourage. Vor zwei Wochen haben die beiden iranischen Schriftstellerinnen Monireh Bardaran und Simin Behbahani sie erhalten für ihren Kampf gegen die Zensur und für die Rechtsstaatlichkeit in Persien.