Von ARMGARD SEEGERS

Hamburg - Als er 1976 am Deutschen Schauspielhaus den Othello spielte, war eine neue Generation von Schauspielern geboren. Ulrich Wildgruber spielte den vor Liebe rasenden Schwarzen schmutzig. Er artikulierte nicht standesgemäß, sondern betonte die falschen Wörter, stieß dabei haufenweise Luft aus und setzte die Atempausen immer an den unpassendsten Stellen. Die Zuschauer pfiffen, buhten, doch das machte diesen tobenden Wilden nur noch wilder. Wildgrubers Othello war kein Shakespeare-Held, er war ein domestiziertes Monster, ein King Kong mit Affenperücke, die Haut voll schwarzer Schuhcreme.

Wer sich mit ihm einließ, auf den färbte er ab. Seine Desdemona zerrte und zog er über die Bühne, dass es in ein wahres Schlachten ausartete. Und gleichzeitig konnte er mit seinem rotgefärbten Riesenmund so kindlich und unschuldig gucken wie ein Sarotti-Mohr.

Wer ihn damals nicht vom Theater kannte, der konnte ihn, mit schwarzer Farbe, also "in Maske", am Hauptbahnhof herumeilen sehen und seinen Text memorieren hören. Oder an der Alster, wo er mit offenem Mantel und stets schwitzend stundenlang spazieren ging. Vornübergebeugt, gehetzten Schritts. Spazierengehen, das war die zweite Leidenschaft des Vollblutschauspielers Ulrich Wildgruber, der gestern tot und, nach Auskunft der Polizei, ohne Fremdeinwirkung, am Strand von Sylt aufgefunden wurde.

Offenbar zwischen Montagabend und Dienstagmorgen ist der Schauspieler ertrunken. Die Leiche war von der Flut angespült worden. Vieles deutet darauf hin, dass Wildgruber zum Sterben nach Sylt gefahren war. Am Montagabend hatte ihn seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Martina Gedeck, als vermisst gemeldet. Wildgruber litt an schweren Herzproblemen und glaubte, wegen seiner schweren Erkrankung nicht mehr auf der Bühne stehen zu können. Einen Abschiedsbrief gibt es jedoch nicht.

Der 1937 in Bielefeld geborene Schauspieler war, vor allem durch seine Arbeit mit Peter Zadek einer der großen Schauspieler seiner Generation geworden. Er war ein großer Shakespeare-Darsteller, er spielte in Zadeks Ibsen-Inszenierungen und war ein von Susanne Lothars Lulu gepeinigter Doktor Schön. Seine größten Triumphe hat er am Deutschen Schauspielhaus gefeiert, wo er mit Zadeks "Hamlet"-Inszenierung am 19. Januar wieder gastieren sollte. Denn seit 1991 war er in keinem festen Engagement mehr. Er hat in Hamburg auch auf Kampnagel in der alljährlichen Silvestershow "Heimatabend" gespielt. Zuletzt trat er vor zwei Jahren mit Becketts "Das letzte Band" in den Hamburger Kammerspielen auf.

Ulrich Wildgruber war Peter Zadeks Paradeschauspieler, und der Othello blieb seine unvergeßlichste, großartigste Rolle. Wenngleich er auch als seltsam dicklich zarter Hamlet im Gedächtnis fest verankert ist, dessen Babygesicht keine Minute daran zweifeln läßt, dass dieser Mensch die Welt weder aus den Angeln heben noch wieder einrenken können wird.

Wildgruber ist wohl der am meisten ausgebuhte Schauspieler seiner Zeit gewesen. Seine Art zu spielen war gewöhnungsbedürftig: antiheldisch, aber wer sich einmal an ihm festgesehen hatte, der wurde ein lebenslanger Fan von ihm, ließ sich von ihm mitreißen.

Wildgrubers praller Genießerkörper versteckte nur notdürftig eine empfindsame Seele. Eigentlich konnte er es überhaupt nicht vertragen, dass Zuschauer ihn ausbuhten. Er buhlte geradezu um deren Zuneigung, lugte, mit schiefem Kopf und halb zugekniffenem Auge, in den Zuschauerraum, nur um sich dann wieder mit umso größerer Verve auf die Bühne und in die Rolle stürzen zu können. Er watschelte, schlurfte, kugelte durch die Szenerie. Wildgruber war ein Körperschauspieler. Er dampfte und kochte, als wilder Caliban in Shakespeares "Sturm" knuffte, quetschte, drückte und warf er seine Mitspieler so sehr hin und her, dass sie stets Reißaus vor ihm nahmen.

Bis zuletzt galt Wildgruber als sehr vital. Mit Zadeks Hamlet war er in diesem Jahr seit Monaten auf Tournee, zuletzt in Berlin, wo er seit Jahren lebte. Seine Kollegen bescheinigten ihm bis zum Schluss Liebenswürdigkeit und Kraft.