Schlacht gegen die Zeit

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Von JOACHIM MISCHKE

Shakespeare-Marathon zum Auftakt der 100. Spielzeit im Deutschen Schauspielhaus. Zwölf Stunden, in fünf Akten: Das erfordert vom Publikum vor allem viel Durchhaltevermögen. Beschreibung eines Sitzfleisch-Selbstversuches.

Sonnabend, 9.30 Uhr: Alle Wochenendeinkäufe wurden gestern schon erledigt, die Blumen sind gegossen. Auch die passende Premierenkleidung (nicht zu eng, dazu - ganz wichtig - bequeme Schuhe) ist vorhanden. Eine Extratasse Kaffee zum Frühstück, und dann ab ins Schauspielhaus. "Schlachten!" kann ruhig kommen, macht mir gar nichts. Ich bin gewappnet. Zwölf Stunden Shakespeare, portioniert in fünf Akte, wollen bewältigt werden. Knapp neun Stunden Spielzeit, diverse englische Könige, Dutzende von mehr oder weniger loyalen Adligen. Krieg und Frieden, Mord und Totschlag in rauen Mengen.

Das Ensemble, 14 Schauspieler in 50 Rollen, hat am 4. Januar mit den Proben begonnen, hat sich monatelang auch miteinander auseinander setzen müssen. Ein Shakespeare-Marathon mit langem Anlauf, und für mich ein Theaterbesuch als Sitzfleisch-Selbstversuch, denn von Kollegen, die im Sommer bei der Salzburger Premiere dabei waren, waren tolle Dinge zu hören und zu lesen gewesen. Einige kleinere Missgeschicke inbegriffen: So hat wohl einer der Schauspieler am Ende von "Margaretha di Napoli" in der Premiere glatt verschwitzt, dass er noch etwas Text aus dem Off zu sprechen hatte. Er bemerkte es, gerade auf dem Weg in seine Pause, neben der Tribüne und rief dann eben von dort dazwischen. In einer anderen Vorstellung sind zwei Besucher beim massiven Trockeneis-Nebeleinsatz fast ohnmächtig geworden. Die Anspannung war zu groß in dem Moment.

Na dann. Was die Salzburger Festspielbesucher ausgehalten haben, kriege ich ja wohl schon lange hin. Dennoch - ein seltsames Gefühl ists schon, morgens ins Theater zu gehen, während der Rest der Welt den Sonnabend mit alltäglicheren Dingen verbringen wird. Premierenfieber bricht normalerweise abends aus. Aber hier und jetzt, an diesem Vormittag im Schauspielhaus, trennt sich die Spreu vom Weizen. Man sieht sich an, mit einer Mischung aus gespannter Vorfreude und dem beruhigenden Gefühl, unter gleichgesinnten Hartgesottenen zu sein. Am Eingangsportal diskutieren einige, was sie an Wegzehrung dabei haben, und obs denn reichen wird. Bestellungen für Menüs in einigen Restaurants in der Nähe werden noch entgegengenommen; einer der glücklichsten Mitarbeiter des Theaters dürfte der Gastronom sein, der zu königlichen Preisen Zwischenmahlzeiten in den Foyer-Gängen anbietet - für ihn ist dieser Shakespeare wohl schon jetzt das Geschäft der Saison.

10.55 Uhr. Der erste Blickkontakt mit der Bühne. Wir werden den ganzen Tag miteinander verbringen, also keine unnötige Eile bei der Sitzplatzsuche. Erst mal umsehen, wer alles da ist, und gegenseitig Mut zusprechen.

11 Uhr: Das Licht geht aus, das Spiel beginnt. Augen auf und durch. Roland Renner, momentan Richard Deuxième, spricht seine erste Textzeile, Hunderte werden folgen. Als sich gegen 13 Uhr der blendend helle Scheinwerfer als Pausenzeichen wieder auf das Publikum richtet, sehe ich zum ersten Mal auf die Uhr. Kein schlechtes Zeichen. Es gibt ja auch Vorstellungen, die um 20 Uhr beginnen, bei denen man nach einer Stunde nachschaut, wie spät es ist - um dann schockiert festzustellen, dass in Wirklichkeit gerade mal zehn Minuten vergangen sind. In der ersten kurzen Kaffeepause gibt es für die meisten nur ein Gesprächsthema: Wie schnell Zeit vergehen kann, wenn man nicht dazu kommt, über sie nachzudenken.

13.30 Uhr: Dann wollen wir mal wieder . . .

15.10 Uhr: Die Schlacht bei Azincourt ist geschlagen, die Franzosen, für Regisseur Luk Perceval nur ein bunter Haufen näselnder Waschlappen, sind im Eimer. Heinrich V. ist am Ziel seiner Wünsche, die unfreiwillig komische Einlage, eine Dusche, die als Regenersatz über seinem Kopf nicht funktionieren wollte, hat Wolfgang Pregler hinreißend überspielt und eingebaut.

16 Uhr: Normalerweise die Tageszeit, zu der bei vielen die biologische Uhr besonders träge tickt. Anzeichen dafür erkenne ich weder beim Ensemble noch bei mir. Es ist zu spannend hier.

17.30 Uhr: "Margaretha di Napoli" ist vorbei. Frauen und Könige - in England ein zeitlos heikles Thema, ein blutiges Finale für den dritten Akt. Licht an, Essen fassen. Aber nicht im Theater. Stattdessen gibts Sushi und grünen Tee im Hauptbahnhof. Nur nichts Schweres jetzt, es sind schließlich noch etliche Stunden bis zum bitterbösen Ende. Die Kondition ist gut, die Stimmung ebenfalls, weiter links am Tresen steht schon jemand mit dem offenbar gerade erst im Foyer gekauften "Schlachten!"-T-Shirt. "Tough Guys Don't Fuck!" Eben. Und schwächeln tun wir erst recht nicht. Wenn die Bezeichnung "Marathon" zutrifft, dürfte jetzt der Streckenabschnitt erreicht sein, an dem Läufer die ersten Glücksgefühle entwickeln. Ein ganzer Tag im Theater? Ein Kinderspiel. Sollte jemand dennoch davor zurückschrecken, es gibt "Schlachten!" auch halbiert, auf zwei Abende verteilt. "Aber das ist ja wohl nur für Warmduscher", meint ein Bekannter grinsend.

Auch für das Ensemble wird gesorgt: Neben dem üblichen Büfett in der Kantine, an dem sie natürlich vorrangig bedient werden, stehen Getränke und Obst bereit. Besonderer Service: Perceval hat eine Masseurin engagieren lassen, bei der sich Schauspieler für Termine zwischen 11 und 19.30 Uhr anmelden können, um in den Spielpausen das lange Stehen aus den Knochen geknetet zu bekommen. Andere ziehen sich für ein kurzes Nickerchen in ihre Garderobe zurück, Regieassistent Jasper Brandis kommt dann zum Wecken vorbei.

18.55 Uhr: Der Tragödie zweiter Teil ruft, und der Platz neben mir ist leer - der junge Mann hat das T-Shirt offenbar nicht gründlich gelesen und es vorgezogen, zu schwächeln. Feigheit vor dem Text, denke ich, kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und nehme wieder die als ideal erruckelte Sitzposition ein. Das Licht geht an, das Spiel beginnt. Schnell ein Blick auf den arg verästelten Stammbaum im ziegelsteindicken Programmbuch, um wieder zu wissen, wer jetzt wer ist und gegen wen er intrigiert.

20.20 Uhr: Die letzte Pause beginnt. Momentan könnte ich nicht behaupten, dass mir das nicht gelegen käme. Schlappmachen, fast schon auf der Zielgeraden? No way, William.

20.45 Uhr: Show-down. Ein Akt noch, ein König, der sich um Kopf und Kragen bringt. Es bleibt spannend, aber es wird auch zunehmend unangenehm in meinem Sitz. Durchhalten.

Sonnabend, 23 Uhr: Das Licht geht an, das Spiel ist vorbei. Auch "Dirty Rich Modderfucker der Dritte" hat kein gutes Ende genommen. Die Schlacht gegen die Zeit ist geschlagen, mein Rücken allerdings hat schon mal entspannendere Tage erlebt. Die Welt vor der Theatertür ist noch da. Als wäre nichts geschehen.

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