Die literarische Welt hat einen neuen Skandal-Autor. Mit messerscharfen Romanen und kauzigen Auftritten hat der Franzose Michel Houellebecq gleichermaßen von sich reden gemacht. Seine düsteren Thesen vom moralischen Verfall der Welt kontrastieren mit seiner Lust an derber Provokation: Mal fordert er den genetisch neuen Menschen, dann empfiehlt er den Pudelkauf als probates Mittel gegen den Selbstmord. Am liebsten aber redet der gehemmt wirkende Literat über Sex.

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REGINA MÜLLER

Da ist nichts, was einen beunruhigen sollte. Alles an dem Mann ist farblos. Betont unauffällig. Schlurfend der Gang und kraftlos die Statur, das Haar schütter, die Haut müde, die Hose fleckig.

Und doch würde man, irgendeiner Intuition folgend, im letzten Moment die Straßenseite wechseln, wenn der Mann einem nahe käme. Vermutlich wäre es ihm selbst lieber. Michel Houellebecq scheint die Nähe zu Menschen unheimlich zu sein. Mürbe und kalt sein Händedruck, bei dem der Arm eng an den Körper gezogen bleibt. Die Augen - mehr als 10 Dioptrien hat er auf jedem - blicken vage in den Raum. Dann tasten sie, in der Spannung zwischen Flucht und Angriff, flackernd das Gegenüber ab, blitzschnell von oben nach unten, verharren und beginnen dann, ohne Unterbrechung zu starren. "Das mit meiner Schüchternheit ist besser geworden", sagt Michel Houellebecq. "Seit ich Erfolg habe."

Während er früher schon beim Anblick von Journalisten in stille Panik verfiel und schließlich stundenlang schwieg, lässt er sich nun freundlich und sanft zu Terminen führen wie ein Schaf zur Schlachtbank.

Eine Lesung hier, ein Interview da, dort gar ein Auftritt mit einer Rockband. Er lässt sich fotografieren, nur lächeln will er nicht, zeigt sich auf Partys in europäischen Großstädten, wo wildfremde Menschen ihn aufgeregt als neuen Kultstar der Literatur feiern. Er hat es geschafft.

"Das ist sehr angenehm", sagt der Autor leise, so leise, dass es später nicht auf dem Tonband sein wird. "Weil es bedeutet, dass ich nie mehr arbeiten muss."

Die Wendung im Leben des Angestellten Monsieur Houellebecq leitete sein Werk "Ausweitung der Kampfzone" ein. Ein bösartiger, wütender Roman gegen unsere Gesellschaft, in der nur zählt, wer schön ist oder Geld hat, am besten beides. Houellebecqs Protagonisten sind hässlich, neurotisch und arm. Und darum mustert der Kapitalismus sie nach seinen erbarmungslosen Gesetzen als Verlierer aus.

Und nun die "Elementarteilchen", Houellebecqs zweiter Roman, der soeben auf Deutsch erschienen ist (DuMont, 420 S., 44 Mark). "Elementarteilchen" erzählt vom glücklosen Leben der beiden Halbbrüder Michel und Bruno, der eine ein genialer Forschergeist, einsam und kontaktgestört, der andere Lehrer und ständig seinen sexuellen Obsessionen hinterherjagend. Bruno landet in der Psychiatrie. Und Michel klont in einem Gen-Institut in Irland das unsterbliche und asexuelle menschliche Leben. Der Roman endet im Jahr 2080, in einer Welt, wo der Mensch zu Gunsten eines geschlechtslosen Wesens abgeschafft ist. In Interviews plädierte der Autor später unverhohlen für eine biologische Neuzüchtung der Gattung Mensch, da die jetzige Spezies misslungen sei.

In Frankreich hatte das augenblicklich einen Skandal zur Folge. Die Redaktion der Literaturzeitschrift "Perpendiculaire" schloss ihn, den Mitbegründer, wegen angeblich faschistoiden Gedankenguts aus ihren Reihen aus. Houellebecq erhielt den mit 60 000 Mark dotierten Literaturpreis "Prix Novembre", aber nicht den renommierteren "Goncourt". Der französische Schul- direktorenverband warnte vor seinem Werk, Air France nahm das Buch, das sich 350 000mal verkauft hatte, aus der Firmenbibliothek. Und Houellebecq stieg auf in den Rang eines wenn auch merkwürdigen Popstars der Literatur.

Seine skurrile Erscheinung mochte dazu ebenso beigetragen haben wie seine widersprüchlichen Statements, die es unmöglich machen, den Autor im politischen Spektrum einzuordnen.

Auch privat hält sich das verhuschte Schreibtalent bedeckt. Seit einem Jahr ist er verheiratet. "Das kann als Lebenssinn genügen", sagt er kryptisch. Einen Sohn hat er, der nicht möchte, dass sein Vater über ihn spricht.

1958 wurde Houellebecq auf La Réunion, einem französischen Département im Indischen Ozean, geboren. Die Eltern verloren bald das Interesse an ihm. Die Mutter gab ihren Arztberuf auf, um zum Islam zu konvertieren, und lieferte Michel bei der Großmutter ab. Ein verlassenes Kind? "Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht erinnern", sagt Houellebecq. "Anscheinend ist die alte Sau zum Islam übergetreten - inspiriert durch die sufistische Mystik oder irgend so einen Scheiß", schreibt er in den "Elementarteilchen".

Houellebecq machte sein Diplom zum Agraringenieur, arbeitete als Informatiker im Französischen Parlament, war länger arbeitslos. Bewohnte eine düstere 40-Quadratmeter-Wohnung in einem Betonsilo südwestlich von Paris, las Versandhauskataloge, trank schon vormittags Rotwein und begann irgendwann zu schreiben.

Begann Figuren zu erfinden, die Büroangestellte, Techniker und Sekretärinnen waren. "Ein banales Universum, untypisch für einen Roman." Es waren Helden mit einer freudlosen Existenz und 68er-Eltern. Figuren, die wie selbstverständlich auf den todtraurig wirkenden Autor rückverwiesen. "Das ist gut", konstatiert Houellebecq. "Das zeigt, dass die Figuren gelungen sind." Sind sie denn autobiografisch? "Darüber rede ich nicht", sagt er und zerbeißt einen weiteren Zigarettenfilter, "ich antworte nie auf diese Frage."

Den "Begründer eines neuen Deprimismus" hat ihn die Zeitung "Le Figaro" genannt. Houellebecq schweigt. Houellebecq schreibt lieber. Über seine Lieblings-Feindbilder: Liberalismus, Promiskuität und Individualismus. "Die logische Folge des Individualismus ist Mord und Unglück. Die Begeisterung, mit der wir uns in diesen Ruin stürzen, ist bemerkenswert, wirklich sehr seltsam." Das sexuelle Durcheinander, so Houellebecq, sei zweifellos Ausdruck der großen Depression der Moderne.

Seine Bücher sind voll von solchen Thesen. "Man sollte so viel wie möglich in einen Roman hineinpacken", findet der Autor. Der ideale Roman müsse sich auf jeder x-beliebigen Seite aufschlagen und lesen lassen, unabhängig von der Geschichte.

Und so packte er in die "Elementarteilchen" Erläuterungen zur Theorie des Physikers Niels Bohr, eine lange Beschreibung des Nudistencamps in Cap d'Agde, wo Houellebecq tatsächlich mit seiner Frau die Urlaube verbringt, sowie vivisektorisch präzise Passagen über die Seelenzustände von Menschen zwischen 30 und 40. "Legen Sie den Finger auf die Wunde", empfiehlt Houellebecq, "und drücken Sie, so fest es geht. Seien Sie richtig gemein, dann sind Sie wahr."

Die Welt als sinnlos und als Quelle des Ekels zu betrachten, das hat in Frankreich seit Camus und Sartre eine lange existenzialistische Tradition. Aber ist sie darum bar jeder Freuden? "Nein, nein", brummt Houellebecq. Und urplötzlich: "Ich liebe Swingerclubs."

Ausgerechnet er, furioser Gegner der Pornografie und scharfzüngiger Ankläger "sozialdemokratischer" Sexsitten? "Das ist etwas ganz anderes", sagt Houellebecq tonlos. "Die Pornoindustrie schürt unerfüllbare Erwartungen. Swingerclubs befriedigen natürliche Bedürfnisse." Weil dort alle gleich sind, dickbäuchig und alternd. Weil dort die Fassade fällt. "Man kann mit einem Mädchen erst diskutieren, nachdem man mit ihm im Bett war", behauptet er. Ihm, dem Schüchternen, kämen die Spielregeln der Etablissements entgegen: "Ich kann einfach keine Frauen anmachen, und dort ist die Sache klar. Man muss natürlich vorher ein bisschen reden." Erkannt würde er nicht, zumindest nicht in der Provinz, "ich bin ja nicht Tom Cruise". Und zum ersten Mal lacht Houellebecq kurz und hysterisch auf.

"Ich mag alles an Frauen", sagt er. "Ich bin ehrlich romantisch und ehrlich sexuell." Leider nur, setzt er zu einer weiteren kruden Erklärung an, lasse bei den Frauen ab 25 die Lust nach: "Sie fühlen sich nicht mehr so schön wie die Yves-Saint-Laurent-Mädchen. Und darum sind sie sexuell nicht motiviert, im Unterschied zu dem, was die Frauenzeitschriften behaupten." Sex sei immerhin einer der wenigen Gründe, die prinzipiell gegen den Selbstmord sprächen.

Einen anderen Grund liefere die Pflicht. Man könne "versuchen, Kinder aufzuziehen" oder "zur Not einen Pudel kaufen". Was die Leute sich eben so einfallen ließen, um ihrem Leben einen Sinn zu geben. "Mit Kindern und Hunden ist das einfach, sie sind charmant", setzt Houellebecq nach. Die größere moralische Herausforderung sei es, sich um die Alten und Kranken zu kümmern. "Vielen Gesellschaften gelingt das nicht. Sie töten ihre Alten." Houellebecq saugt an seiner Zigarette und lässt den Satz genüsslich lange in der Luft hängen. Ein böser Satz, ein schöner Satz. Er könnte ihn aufschreiben.

"Ich kann einfach keine Frauen anmachen. In Swingerclubs ist die Sache klar. Man muss natür- lich vorher ein bisschen reden."