Von JENS HARTMANN

SAD Moskau - Einen solchen Höhenflug hätte wohl kaum einer dem russischen Regierungschef Wladimir Putin zugetraut. Genau 100 Tage im Amt, ist er nach allen Umfragen zum Top-Favoriten für die Nachfolge von Präsident Boris Jelzin avanciert. Dabei sieht Putins Bilanz nicht eben berauschend aus. So hat das Ausland einen Teil der Kredite für Russland gestoppt, und in der internationalen Finanzwelt wird gemutmaßt, dass Top-Beamte im Kreml korrupt sind. Auch aus diesem Grund hat sich das Verhältnis Russlands zum Westen merklich abgekühlt.

Die wirtschaftlichen Kennziffern Russlands weisen zwar nach oben - so wird mit einem leichten Wachstum in diesem Jahr gerechnet. Dieser Aufschwung findet freilich auf der Basis des Katastrophenjahres 1998 statt, als Russland sich de facto für zahlungsunfähig erklären und den Rubel drastisch abwerten musste. Leichte Erfolge kann Putin zumindest an der Schuldenfront im Inland aufweisen. Renten und Gehälter werden mehr oder weniger pünktlich ausbezahlt.

Putin wirkt meist wie ein verkniffener Apparatschik. Er ist von kleiner Statur, strahlt Autorität am ehesten mit seinem kalten Blick aus. Jahrzehnte hat er als Schattenmann beim KGB gewirkt und muss sich an Auftritte im Scheinwerferlicht noch gewöhnen. Dann aber spart der 47-Jährige nicht mit markigen Sprüchen, wie etwa der Ankündigung: "Notfalls machen wir auch tschetschenische Terroristen auf dem Klo kalt."

Seinen guten Ruf verdankt Putin, der bisher weder ein wirtschaftliches noch ein politisches Programm vorweisen kann, in erster Linie der Kriegsdividende, die ihm der Einsatz von 90 000 Mann in Tschetschenien bringt. Im Fernsehen und in den Zeitungen wird das Vorrücken der Streitkräfte mit Wohlwollen registriert. "Da haut mal endlich einer auf den Tisch", lautet der Tenor in der Berichterstattung. "Wladimir Putin ist ein Mann der einfachen Antworten. Und genau die will das Volk hören", erklärt der Kreml. Er sei "energisch, handlungsfähig und loyal". Kein Wunder, dass sich die "Familie", wie die Clique um Kremlchef Jelzin genannt wird, am bevorstehenden Ende der Ära Jelzin um Putin schart.

So haben die chronisch mit Korruption in Zusammenhang gebrachte Jelzin-Tochter Tatjana Djatschenko, Ex-Stabschef Walentin Jumaschew und der heimliche Kreml-Finanzchef Roman Abramowitsch schon mit der Bildung eines Wahlkampf-Teams für Putin begonnen. Putin soll offenbar die reibungslose Übergabe der Macht garantieren - und "die Familie" vor der Machtübernahme durch politische Schwergewichte wie Ex-Premier Primakow und Moskaus Bürgermeister Luschkow schützen.

Wer ist Wladimir Putin? Über den Mann mit dem akkuraten Linksscheitel ist wenig bekannt. Putin wird 1952 in Leningrad geboren, studiert Jura und arbeitet von 1975 an bei der Auslandsspionage. Lange ist er in Deutschland tätig, wirkt als Resident in Dresden und Leipzig und bearbeitet dort ausreisewillige Wissenschaftler, bevor es ihn zurück in seine Heimatstadt zieht. Dort wird er außenpolitischer Berater von Bürgermeister Anatoli Sobtschak. 1996 wechselt er auf Empfehlung des ebenso aus Petersburg stammenden Reformers Anatoli Tschubais in den Kreml. Dort kümmert er sich um die Auslandsbesitzungen, wird schließlich Chef-Controller, bevor Jelzin ihn 1998 zum Inlandsgeheimdienschef und später auch zum Sekretär des mächtigen Sicherheitsrates macht.

Putin ist für Jelzin derjenige, der an seiner statt einen schmutzigen Krieg führt und dessen politische Karriere bei einem militärischen Debakel zu Ende sein dürfte. Er stellt zugleich die Verbindung zu den Geheimdiensten her. Unklar in dem Machtspiel ist jedoch, wer wen benutzt. "Die Aussicht, einen Mann aus den eigenen Reihen als Präsidenten - und damit etliche Posten - zu bekommen, ist für die Geheimdienstler verlockend", schrieb die "Obschtschaja Gaseta".