Die Vorurteile sitzen tief. Noch wird jeder Wolf, der sich nach Deutschland verirrt, abgeschossen. In Transsylvanien beweist ein Forschungsprojekt, dass es auch anders geht: als Koexistenz zwischen Großraubtieren und Mensch. Das Unternehmen zum Schutz der Tiere trägt sich unter anderem aus dem Ökotourismus: wandern auf den Spuren der Wölfe - und Vampire.

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CHRISTIAN-A. THIEL

Wir sehen ihn nicht, wir spüren ihn nur. Wir finden seine Spuren. Eine frische Fährte, vielleicht ein paar Stunden alt. Eine Höhle, in der eine Wolfsmutter ein paar Wochen mit ihren Welpen verbracht hat. Ein abgenagter Knochen. Und mit etwas Glück hören wir ihn in sicherer Distanz heulen. Canis lupus, der Wolf.

Die Schuhe knirschen beim Wandern durch den frisch gefallenen Schnee. Bergauf, bergab durch Piatra Craiului, einen der letzten europäischen Urwälder in den rumänischen Karpaten. In der Luft krächzen Kolkraben. Der Letzte in unserer Gruppe dreht sich von Zeit zu Zeit unsicher um. Verfolgt uns da etwas? Ein Wolf, gar ein Braunbär? Christoph Promberger, unser Führer und Begleiter, lacht: "Die Tiere nehmen uns viel früher wahr als wir sie. Sie meiden den Kontakt zum Menschen." Für alle Fälle hat er dennoch das "Bären-Spray" in der Tasche.

In der unermesslichen Weite Transsylvaniens ( übersetzt: "hinter dem Wald" ), dem ehemaligen Siebenbürgen, haben die europäischen Wölfe eines ihrer letzten Refugien. Hier leben 3100 Tiere, gut ein Drittel der gesamten europäischen Population. Die Raubtiere verdanken ihr Überleben in Rumänien auch dem Diktator Ceausescu, der Wilderer streng verfolgte - sie beeinträchtigten seine geliebte Bärenjagd.

Jede Fahrt nach Rumänien ist eine Zeitreise, in Transsylvanien wird sie krass. Pferdewagen konkurrieren im Straßenbild mit den Dacias aus heimischer Produktion. Abends haben die Kühe Vorfahrt, die allein den Weg von der Weide quer durch den Ort finden, wo die Großmutter vor dem geöffneten Tor wartet.

Ausgerechnet hier, 28 Kilometer entfernt von Brasov, ehemals Kronstadt, hat Christoph Promberger (34) sein Projekt angesiedelt. Das "Carpathian Large Carnivore Project" erforscht die europäischen Großräuber Wolf, Bär und Luchs. Ein Blockhaus am Fuß der grünen Berge dient seit 1993 als Basisstation - mit Gehege, Pferdestall, Sauna so komfortabel wie in der Wildnis eben möglich. Annette Mertens (30), Barbara Promberger-Fürpaß (25), seit einem Jahr Ehefrau des Projektleiters, und Peter Sürth (34) arbeiten hier mit einigen rumänischen Kollegen.

Der bayerische Förstersohn Promberger ist dem Ruf der Wölfe gefolgt, seit er im Sommer 1987 in Dachau über der fesselnden Lektüre des Jugendbuchs "Ein Sommer mit Wölfen" ( "Never Cry Wolf" ) von Farley Mowat zwei S-Bahnen verpasste. "Das ist es", sagte sich Promberger, der seine Liebe zur Natur regelmäßig im kanadischen Yukon-Gebiet anreichert. Der Diplom-Forstwirt wurde schon als 27-Jähriger zum Chairman des "European Wolf Network" - und ist seither einer der führenden Wolf-Forscher des Kontinents.

Die Alltagsarbeit des Forscher-Teams hat wenig mit Lagerfeuer-Romantik zu tun. Wochenlang spüren sie den Tieren hinterher. Nur selten fängt die Telemetrie Signale der mit Sendern versehenen Tiere ein. Am Anfang gab es Rückschläge: Der erste markierte Wolf wurde eine Woche später tot aufgefunden. Ein ähnliches Schicksal erlebten die Forscher dieser Tage mit ihrem ersten Luchs. Neben dem Sender lag nur noch ein Haufen Knochen. Auf der anderen Seite stehen Glücksmomente wie im Sommer 1995, als in nur fünf Tagen vier Wölfe aus drei verschiedenen Rudeln gefangen wurden: "Über Nacht waren wir das größte Wolfsforschungsprojekt in Europa!" Und Promberger derjenige, der mit dem Wolf tanzt.

Ein BBC-Team, das einmal unverrichteter Dinge abgezogen war, filmte beim nächsten Versuch zwölf Nächte lang täglich Wölfe in den verrücktesten Situationen - der Bericht lief in 60 Ländern. Im Mittelpunkt stand das Vorzeigetier des Projekts: Timish, die Stadtwölfin von Brasov, mit ihrem "Downtown Pack". Timish wurde mit ihren zehn Welpen gefilmt, wie sie nachts an den Schaufenstern vorbei durch Brasov flaniert. Eine Ausnahme, der Lohn für geduldiges Warten.

Besuchern des Projekts bleibt immerhin ein Blick auf die beiden dreijährigen handzahmen Wölfe Crai und Poiana, die zu internationalen Filmstars geworden sind. An den von einer Pelztierfarm erworbenen Wölfen studierten die Forscher Futter- und Sozialverhalten. Doch Wildtier bleibt Wildtier: Eine tiefe Narbe im Unterarm erinnert Christoph Promberger an den "Dank", als er eines der Tiere befreite, das mit einem Augenlid am Drahtzaun hängengeblieben war.

Das Projekt, in enger Zusammenarbeit mit der rumänischen Regierung, soll neben der traditionellen Wolfsforschung vor allem die Koexistenz zwischen Mensch und Raubtier sichern. Dem Wolf hilft es wenig, dass ihn die Berner Konvention europaweit seit 1982 schützt. Wichtiger ist es, Vorurteile abzubauen.

Dass Isegrim angeblich nur bei Vollmond heult, ist da noch ein banales Klischee. Andere Schauermärchen sind tief in den Kulturen verwurzelt. Pensionswirt Gigi Popa erzählt den alten Siebenbürger Abzählreim: "Neun, zehn, schlafen gehn; elf, zwölf, fressen dich die Wölf." Die katholische Kirche, die den Wolf als Gefahr für ihre Unschuldslämmer brandmarkte, Grimms Märchen vom Rotkäppchen und die Legende von Werwölfen verpassten den Grauköpfen im aufgeklärten Mitteleuropa ein übles Image. Jäger würden die ungebetenen Gäste am liebsten durch den Wolf drehen. Beweise für Gräueltaten des Wolfes an Menschen gibt es jedoch nicht. Der Hund, sein domestizierter Nachfahre, richtet weit mehr Schaden an.

In den Karpaten ist der natürliche Feind des Wolfes der Schäfer. Tag für Tag folgt er seiner Herde auf dem Zug über die saftigen Bergwiesen. Mit einem Stab und drei bis sieben Schäferhunden versucht er zu verhindern, dass sich der Wolf am kalten Schafsbüfett bedient.

Opfer bleiben nicht aus. Gerade wenn Wölfe geschossen werden und Rudel auseinander fallen, wechseln die Einzeltiere vom Rotwild auf die für sie einfachere Schafsjagd. Dennoch gibt es keine militanten Scharmützel wie in Westeuropa, wenn sich dort ein Wolf blicken lässt. "Wir mögen sie nicht, aber wir respektieren sie", sagt der 27-jährige Schäfer am Fuße des Piatra Craiului. 900 Schafe hütet er im Sommer auf freiem Feld. In der kalten Saison nächtigt er im festen Haus, die verbliebenen 100 Schafe eingezäunt. Jetzt läuft er der unruhigen Herde hinterher. "Sie sind ängstlich, wahrscheinlich ist ein Wolf in der Nähe."

Auch der 76 Jahre alte Bergbauer, der im malerischen Bergdorf Pestera seinen Lebensabend verbringt, hat ein sachliches Verhältnis zu den Wildtieren. Füchse haben seine Hühner gestohlen, Wölfe schon mal ein Kalb geholt und Bären sogar einen ganzen Kuhstall niedergerissen. "Aber das ist doch selbstverständlich", sagt der alte Mann, der die Handpumpe vor seiner Holzhütte mit Tüchern gegen den Nachtfrost wappnet. "Wir haben immer hier gelebt, die Tiere aber auch."

Christoph Promberger und seine Mitarbeiter hören das gern. "Wir wollen nicht gegen die Menschen arbeiten." Im Gegenteil: Die Rumänen sollen profitieren. Jäger müssen so gut verdienen, dass sich Wilderei nicht mehr lohnt. Die Region soll am Ökotourismus verdienen, Wirte, Busfahrer und Kunsthandwerker Geschäfte machen. In zwei Jahren brachten die Reisenden den Rumänen 150 000 Dollar Umsatz.

Promberger verbringt viel Zeit als "Tourismus-Manager", wenn er sich persönlich um Reisegruppen kümmert, neue Ziele aus- tüftelt und allzu aufdringliche Vermarktungsangebote ablehnt. "Aber ich finde schon noch zwei, drei Wochen, in denen ich draußen sein kann." Hinter dem Ökotourismus steckt die Idee, die natürlichen Angebote des Landes - Skifahren, Reiten, Kutschfahrten - mit einem Besuch beim Wolfsprojekt zu verknüpfen.

Wanderungen stellen nicht nur britische Vogelkundler zufrieden, die den einzigartigen Artenreichtum genießen; des Nachts

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"Neun, zehn, schlafen gehn; elf, zwölf, fressen dich die Wölf" - die Schauermärchen sind tief in den Kulturen verwurzelt.

Transsylvanien - Land bizarrer Gegensätze. Auf den Stufen zum Schloss Bran (links) ruft die Fantasie den "Tanz der Vampire" in Erinnerung. Die Rumänen selbst stehen dem aus Großbritannien importierten Dracula-Kult skeptisch gegenüber. Nur langsam läuft das Geschäft an. Sie bieten aber mit einsamen Gedenksteinen in urtümlicher Szenerie (Mitte) eine fantastische Kulisse für Grusel-Touren. Das größte Bergwald-Ökosystem Europas umfasst 68 000 Quadratkilometer. Das karge Leben der Bergbauern symbolisieren die als Wintervorrat aufgeschichteten Heuhaufen am Rande des verschneiten Dorfes Pestera (rechts). Die Felder werden hier noch per Hand bewirtschaftet, einziges Hilfsmittel ist das Pferd. Der Ökotourismus nach Siebenbürgen bietet eine Zeitreise in die Vergangenheit.