Raissa Gorbatschowa ist tot. Als wichtigste Beraterin ihres Mannes hatte sie großen Anteil an seiner Politik der Öffnung. Dafür wurde sie im Westen verehrt, die Russen fanden sie arrogant - bis sie todkrank wurde.

Raissa Gorbatschowa, die Frau des früheren sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow, hat den Kampf gegen den Blutkrebs verloren. Die 67-Jährige starb gestern Morgen in der Universitätsklinik in Münster an einem Versagen des Kreislaufs und der inneren Organe. Acht Wochen hatte ihr Kampf gegen die myeloische Leukämie gedauert, eine besonders aggressive Art, wie ihr behandelnder Arzt, Professor Thomas Büchner, gestern sagte.

Erschüttert gab Michail Gorbatschow (68), der jeden Tag zehn und mehr Stunden an Raissas Krankenbett verbracht hatte, ihren Tod bekannt. Nach 46 glücklichen Ehejahren sagte der Witwer: "Das ist die schwerste Prüfung für mich. Sie ist schlimmer als alle Härten, die ich jemals in der Politik durchstehen musste." Es sei furchtbar gewesen, "einen Menschen, den man liebt, leiden zu sehen und nicht helfen zu können."

Bis zuletzt hatten die nach Münster geeilten Angehörigen - Tochter Irina, selbst Ärztin, die Enkelkinder, Raissas Schwester Ljudmilla - die Hoffnung nicht aufgegeben. Ljudmilla hatte bereits Knochenmark gespendet. Doch die Ärzte konnten die Transplantation nicht wagen. Raissa Gorbatschowa hatte eine schwere Infektion und eine Darmlähmung bekommen.

In einem Beileidsschreiben an Gorbatschow würdigte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Verstorbene als "beeindruckende Persönlichkeit". Ex-Kanzler Helmut Kohl erklärte: "Ich persönlich und die Deutschen haben ihr viel zu verdanken." Russlands Präsident Boris Jelzin sprach von einem bitteren Verlust.

Am Ende hatten die Russen Raissa Gorbatschowa verziehen. Die rührende Liebe des alternden Gorbatschow zu seiner sterbenden Frau, das rührte die große russische Seele. "Lady Würde", diesen Ehrentitel verlieh ihr die russische Presse während ihrer letzten Tage im Krankenbett in Münster. Russen offerierten Knochenmarkspenden, Sibirier schickten Heilkräuter, und eine Frau bot gar an, die einst so Ungeliebte in Münster zu bekochen, um ihr die deutsche Küche zu ersparen.

Das war nicht immer so. Die einstige First Lady des Sowjetstaates, Raissa Maximowna Gorbatschowa, hat in Russland, anders als im Westen, nie große Sympathien verspürt. Als Gattin des damals mächtigsten Mannes der Supermacht UdSSR war sie den Russen suspekt. Als arrogant und zu dominant wurde sie gescholten.

Sie kleidete sich nicht in Mausgrau, sondern trug Hochmodernes aus Paris. Anders als die Ehefrauen der Sowjetführer vor ihr, versteckte sie sich nicht hinter ihrem Mann. Sie war die erste sowjetische First Lady, die diese Bezeichnung auch verdiente. Sie war die erste, die sich eine eigenständige Existenz neben dem Spitzenmann Gorbatschow bewahrte. Egal ob sie am Rande von Staatsbesuchen Galerien, Museen oder Waisenhäuser besuchte: Die Auftritte der Professorin für Dialektischen Materialismus wurden stets zu einem Medienereignis.

Raissa hielt sich nie mit politischen Ratschlägen an ihren Mann zurück, so dass schnell Gerüchte aufkamen, sie bestimme die Politik des Kreml. Die Vorstellung von einer Gattin, die nicht dienstbarer Geist des Hausherrn, sondern Partnerin war, löste bei den russischen Traditionalisten Gruselschauer aus.

Für den viel geprüften Michail Gorbatschow war sie die Liebe seines Lebens und der verlässliche Kamerad an seiner Seite. "Ich bin nicht sicher, ob ich das alles durchgestanden hätte ohne sie", bekannte er lange vor ihrem viel zu frühen Tode. "Sie hat mich immer wieder zum Kämpfen ermutigt. Es ist für mich ein großartiges Gefühl, nach Hause zu kommen und alles mit ihr durchsprechen zu können."

Raissa wurde am 5. Januar 1932, nach anderen Angaben 1934, in dem kleinen Nest Rubzowsk im Altai geboren, wo sie auch aufwuchs. Sollte hier der Grund für die Leukämie liegen, der sie nun erlag? Der Altai gehört zu den Regionen, die von den Atombombenversuchen am meisten betroffen wurden. 1949 wurde in Semipalatinsk im benachbarten Kasachstan die erste sowjetische Atombombe gezündet.

Der Wind trug den verstrahlten Staub vom Testgelände direkt in die Berge des Altai. Dort erkranken noch heute 360 von 100 000 Einwohnern an Krebs. Im russischen Mittel sind es "nur" 292. Ist Raissa womöglich ein spätes Opfer des atomaren Wahns?

Michail Sergejewitsch Gorbatschow, der einstige Herrscher auch über Moskaus Atomstreitmacht, hat sich nichts vorzuwerfen. Unter seiner Ägide wurde erstmals Ernst gemacht mit der Verschrottung des "Teufelszeugs".

Raissa begegnete ihrem späteren Ehemann das erste Mal 1951 in Moskau. Beide studierten an der berühmten Lomonossow-Universität. Sie an der philosophischen Fakultät, er an der juristischen. "Ich war 18 und teilte ein Zimmer mit sieben Mädchen. Unser Hauptgesprächsgegenstand: die Jungs", erinnerte sie sich in einem der Interviews, die sie nach dem Sturz Gorbatschows reichlicher gab.

Zwei Jahre musste sich der verliebte Gorbatschow um die Schönheit aus der Provinz bemühen. Erst dann erhörte sie ihn, Hochzeit wurde 1953 gefeiert. Tochter Irina, ihr einziges Kind, kam ein Jahr später zur Welt. Von nun an sollten sich die Wege der Gorbatschows nie mehr trennen: "Ich teilte alles mit ihm auf seinem Weg an die Spitze und den ganzen Weg wieder nach unten. Ich habe ihn nicht geheiratet, weil ich hoffte, er würde Präsident werden, sondern weil er war, wie er war, und weil ich ihn liebte."

Sie folgte ihm zunächst nach Stawropol, wo er sich in einem Zweitstudium der Landwirtschaft zuwandte. Hier, wo der spätere KPdSU-Generalsekretär geboren wurde, begann auch seine Parteikarriere, die ihn schließlich auf den Olymp des Realsozialismus in der Sowjetunion trug. Auch in den schwersten Stunden der Verbannung in Foros während des Augustputsches von 1991 wich sie nicht von seiner Seite. Schwere gesundheitliche Probleme, hervorgerufen durch die Nervenanspannung und die Sorge um den Gatten, waren die Folge.

Auf Auslandsreisen, das war weitgehend neu in der erstarrten Moskauer Gerontokratie, begleitete sie den Staatschef ganz selbstverständlich. "Ich hatte nie Zweifel daran, dass meine Frau bei mir sein sollte", erinnerte sich Gorbatschow. Und er war dankbar für die Anwesenheit seiner intelligenten Frau. Sie verstand es beispielsweise in hitzigen Debatten mit Maggie Thatcher meisterhaft, die Gemüter zu beruhigen.

Raissa Maximowna brach über den Westen herein wie eine unbekannte Naturgewalt. Schön, zierlich, elegant gekleidet, mit einer deutlichen Liebe zu teurem Schmuck und erstaunlichen Kenntnissen in der englischen Literatur entsprach sie in keiner Phase dem gängigen Klischee von der muskulösen Russin, die geradewegs aus der Traktorenfabrik kommt.

Im Westen fand das gespannte Verhältnis zwischen ihr und der Frau des US-Präsidenten Ronald Reagan, Nancy, ebenso viel Beachtung in den Medien wie die Einzelheiten der von ihren Männern ausgehandelten Abrüstungsvereinbarungen. Nancy Reagan gab sich auch keine Mühe, ihre Abneigung gegen Raissa Gorbatschowa zu verheimlichen. "Was glaubt diese Dame denn, wer sie ist?" Auf die Frage, ob sie Frau Gorbatschow für unhöflich halte, sagte sie: "Nach unserem Verständnis, ja."

Im Vergleich mit den First Ladies der USA hatte Raissa wahrscheinlich mit Hillary Clinton am meisten gemeinsam. Sie war eine selbstbewusste und kluge Frau, die die Ideen ihres Mannes voranbrachte und die dafür von vielen geachtet und von ebenso vielen geschmäht wurde.

Mit ihren Auftritten, das wurde in Moskau allzu lange verkannt, hat sie mehr für ihr Land erreicht, als es Regimenter von Diplomaten und tonnenweise politische Resolutionen haben bewirken können. Erst sehr spät, erst als der Tod ihr schon ins Gesicht geschrieben stand, ließ man ihr in Russland Gerechtigkeit widerfahren.

Raissa Maximowna Gorbatschowa wurde schließ lich zum "Symbol der Befreiung des Landes vom Einheitsgrau". Ihr Leichnam soll nun nach Russland überführt werden. Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Itar-Tass soll die Verstorbene auf dem Friedhof des Moskauer Neujungfrauenklosters beerdigt werden. SAD