Folge drei der Abendblatt-Serie: Lesen Sie heute die Geschichte von Jesse Owens und seiner Freundschaft über alle Grenzen hinweg mit dem Deutschen Luz Long, die 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin begann.

Von OSKAR BECK Der Brief, den Jesse Owens zu Beginn der 40er Jahre in Cleveland/ Ohio eines Morgens in seiner Post findet, hat einen langen Weg hinter sich. Er kommt von der nordafrikanischen Kriegsfront, ist in etwas ungelenkem Englisch geschrieben, und das Datum im Poststempel verrät, daß der Brief aus der Wüste bis Amerika fast ein Jahr gebraucht hat. "Mein lieber Freund Jesse, wo ich jetzt bin, scheint es nichts mehr zu geben außer Sand und Blut. Ich habe keine Angst um mich, ich habe nur Angst um meine Frau und meinen Sohn Karl, der seinen Vater nie richtig kennengelernt hat. Mein Herz sagt mir, daß dies vielleicht der letzte Brief ist, den ich je schreiben werde. Wenn es so ist, bitte ich dich um eines: Gehe nach Deutschland, wenn der Krieg vorbei ist, suche meinen Sohn, und erzähle ihm von seinem Vater. Erzähle ihm aus den Zeiten, als uns der Krieg nicht getrennt hat - und sage ihm, daß die Dinge auch anders sein können zwischen den Menschen auf dieser Erde . . . Dein Bruder, Luz."

Jesse Owens hat später in seinen Memoiren geschildert, wie er nach diesem Brief zum Herrgott gebetet hat, er möge diesen Krieg beenden und diesen Mann retten, der sein größter Gegner war und sein bester Freund wurde. "Ich habe ihn geliebt", so Owens.

Berlin, August 1936. Olympische Spiele, Qualifikation im Weitsprung. Als Owens die Konkurrenz mustert, weiß er sofort: Der da drüben ist es. Groß. Blond. Blaue Augen. Das ist Hitlers Mann. Luz Long. Der soll ihn besiegen und ihm die Überlegenheit der arischen Rasse beibringen. Ihm, dem Schwarzen. "Mein Erzfeind", schießt es Owens durch den Kopf.

James Cleveland Owens, kurz: J.C., sprich: Jesse, ist 22 und muß keinen auf der Welt fürchten. Am 25. Mai 1935 ist ihm in Ann Arbor das sagenhafte Kunststück gelungen, binnen 45 Minuten fünf Weltrekorde zu brechen, wobei er die 200 Meter in 20,3 Sekunden lief - die 8,13 Meter im Weitsprung sind so unwiderstehlich, daß sie bis 1960 halten.

Warum ist Owens an diesem Tag so nervös? Erster Sprung: ungültig. Zweiter Sprung: zu kurz. Er hat nur noch einen Versuch, er sieht sich schon als Lachnummer - da spürt er diese Hand auf den Schultern. "Jazzy Owenz", sagt Luz Long mit seinem deutschen Englisch, "ich weiß, was jetzt in Ihnen vorgeht." Und er redet dem Amerikaner gut zu, gibt ihm Tips für den Anlauf, und damit er den Balken beim Absprung trifft, legt er ihm zur Orientierung noch ein Handtuch daneben. Owens läuft an. Er springt wie befreit. Olympischer Rekord. Finale geschafft. "Alles, was ich Luz Long anbieten konnte", sagt er später, "war meine Freundschaft."

Am Abend treffen sie sich auf einen Kaffee. Sie treffen sich fortan jeden Abend, der Weiße aus Nazideutschland und der Schwarze aus Alabama, die beide vom Jahrgang 1913, aber aus zwei unvereinbaren Welten sind, und Owens erzählt Long, wie er als eines von acht Kindern eines Baumwollpflückers im Süden aufwuchs, wie sie vor der Armut nach Cleveland flüchteten, wie er sich dort als Hotelpage durch-schlug, er erzählt von seiner Frau Ruth und Töchterchen Gloria. Und Luz Long erzählt von seiner Familie und Söhnchen Karl.

Dann kommt der Tag des Weitsprung-Finales, ihr Duell am 4. August 1936. Luz Long legt vor. 7,87 Meter - neuer Olympischer Rekord. Owens eilt zu ihm, um-armt ihn. Dann ist er dran. 35 Schritte zum Balken - 8,06 Meter.

"You did it!", ruft Long, "du hast es geschafft!" Und der Deutsche hebt den Arm des Siegers, führt ihn zu den Zuschauern, ruft in die Menge: "Jazzy Owenz!" Und plötzlich skandiert das ganze Stadion diesen Namen, Jesse Owens wird zum Liebling der Berliner. Tags zuvor hat er die 100 Meter gewonnen, tags darauf siegt er über 200 Meter und am Ende auch noch mit der 4 x 100-Meter-Staffel. "Das Berliner Publikum hat mir die schönsten Tage meines Lebens bereitet", sagt er, "während Hitler eine Wut auf mich hatte." Oh ja, er wußte, wer dieser Mensch da oben in der Loge war. Und er wußte, was er diesem Diktator antat: viermal schwarzes Gold unterm Hakenkreuz - vier Siege gegen den Rassenwahn.

Dann ist Krieg. Im Juli 1943 stirbt Luz Long in Sizilien. Doch für Owens lebt er noch einmal auf, Jahre danach in Berlin. "Ich habe ihn wiedergesehen, im Gesicht seines Sohnes Karl." Sie machen einen langen Spaziergang, und der Amerikaner erzählt dem jungen Deutschen von seinem Vater. Und von einer Augustwoche in Berlin.

Jesse Owens ist 1980 gestorben. Seine Lebenserinnerungen beginnen mit der Widmung: "Für zwei unvergleichliche Mannschaftskameraden: Meine Frau Ruth - und den Nazi, der Hitler mit mir bekämpft hat, Luz Long."

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