Im Elbdorf Bullenhausen wollen Niedersachsens Regierende einen neuen Deich bauen. Doch Anwohnerin Inge Meysel und Nachbarn kämpfen um freie Sicht auf den Strom. Zum Ärger der übrigen Einwohner.

Die neun Villen liegen wie Perlen am Elbstrand von Bullenhausen. Eine schöner und weißer als die andere. Der schmucke Bungalow von Inge Meysel ist noch nicht einmal der imposanteste. Die Sicht aus den großen Fenstern der Häuser reicht weit über das Wasser am Zusammenfluß von Norder- und Süderelbe. Der Rasen davor ist sauber gemäht bis zum Ufer des Stromes. Weiden und Pappeln wiegen sich im Wind.

Die Bauten stehen auf einer Anhöhe. Zu ihnen steigt der Rasen leicht an. Aber er steigt eben nur leicht an. Genau das ist das Problem. Denn ein Deich droht. Und die neun Grundeigentümer, darunter die einst als "Mutter der Nation" bezeichnete Schauspielerin, kämpfen um freie Sicht auf den Strom.

Das Land Niedersachsen möchte Bullenhausen mit einem neuen, 1,2 Kilometer langen Deich schützen. Vor allem aber soll das Bollwerk gegen den Strom 8 Meter 20 hoch werden. Aufgrund veränderter Tideverhältnisse gilt das Hinterland als überschwemmungsgefährdet. Keine schöne Aussicht.

Hinter den neun Villen liegt der Rest des kleinen Dörfchens Bullenhausen, der so ganz anders ist. Rotgeklinkerte, kleinere Einzelhäuser, penibel geharkte Beete, geraffte Spitzengardinen. Alles noch ordentlicher. Viel los ist in der kleinen Gemeinde mit einer Handvoll Straßen nicht. Es ist ein Ort, der in der Zeitung steht, weil Einbrecher im Feuerwehrgerätehaus einen Kasten Bier klauen - wie Ende Januar.

Die Bullenhausener, meist ruhige Menschen, die schon so einige Sturmfluten erlebt haben, sprechen von "den Prominenten da hinten" oder sagen einfach: "Unsere Millionäre". Ein Goldschmied, ein Regisseur und ein Autohändler wohnen dort. Nachbarn, mit denen man nie soviel zu tun hatte. Deretwegen die Schafe nur durch das Dorf und nicht an der Elbe entlanggetrieben werden dürfen. Die Schilder mit "Halt! Durchgang nicht gestattet!" am Ufer aufstellen.

Fast alle im Dorf fordern: "Der Deich muß kommen!" "Wenn die Meysel und die anderen nicht so prominent wären, wär' der Deich längst gebaut", schimpft eine ältere Dame. Aber sie möchte anonym bleiben - "wegen der anderen, sie wissen schon". "Die Meysel kann sich auf den Kopp stellen, der Deich muß kommen", poltert Günter Kliewer. Auch er möchte lieber kein Foto von sich in der Zeitung sehen. Mutiger ist Heinz-Georg Barenscheer: "Nach jeder großen Flut hat die Feuerwehr der Meysel und den anderen die Keller wieder leergepumpt", erzählt der frühere Bezirksschornsteinfegermeister. Er wohnt hinter dem Deich von 7 Meter 30 Höhe und hat Angst: "Wenn mal wieder so eine große Flut kommt, saufen wir ab."

Gestern abend ließen sich die "Millionäre" und andere Bullenhausener in der Gaststätte "Zur schönen Aussicht" in Over über die Situation der neun Grundstücke informieren. Der Chef des Niedersächsischen Landesbetriebes für Wasserwirtschaft und Küstenschutz, Olaf Müller, wollte extra aus Lüneburg anreisen. "Wir wollen aufklären und erfahren, was die Leute über den vorgeschlagenen Deichbau denken", begründete er gestern nachmittag die geschlossene Veranstaltung. Auch Inge Meysel saß unter den Zuhörern.

Die Lage ist nicht einfach: Der Hochwasserschutz in der Region muß auf jeden Fall verstärkt werden. Die Alternative zu einem höheren Deich zwischen Elbe und den neun Perlen Bullenhausens wäre eine Erhöhung der Flutschutzmauer hinter den Grundstücken. "Doch die Leute wohnen außendeichs und damit in einem rechtsfreien Raum", erklärt Müller das Dilemma. Nur Häuser hinter dem Deich fallen unter das Deichgesetz, nur deren Eigentümer müssen sich beugen: "Wer nicht will deichen, muß weichen", so schon ein Spruch des 17. Jahrhunderts. Müller sucht Streit zu vermeiden: "Erst wenn wir wissen, wie die Menschen dazu stehen, können wir anfangen zu planen." Er weist auch darauf hin, daß es um mehr als das Wohl von neun Grundeigentümern geht: "Ob der Grundsatz Gemeinwohl geht vor Eigenwohl dann angewendet werden muß, kann möglicherweise später nur ein Richter entscheiden." Wenn er angerufen wird . . . Inge Meysel (89) sagte gestern abend: "Für mich wird die Sache der liebe Gott entscheiden."