Von ANDREAS ENGLISCH und CONSTANCE KNITTER SAD Rom/Chamonix - Italien trauert um einen Helden: Vier Männer brachte Pierlucio Tinazzi (34) aus dem brennenden Tunnel unter dem Montblanc in Sicherheit. Er starb bei dem Versuch, einen fünften aus den Flammen zu holen. Die Hitze tötete den Motorradfahrer gemeinsam mit dem Mann, den er retten wollte. Eine Sicherheitskammer wurde für beide zur Falle.

Tinazzi gehörte zu acht Motorradfahrern, die regelmäßig durch den Tunnel pendeln, um nachzusehen, ob Autofahrer in Schwierigkeiten sind oder Metallstücke auf der Fahrbahn liegen. Nach einer gescheiterten Ehe ohne Kinder kümmerte sich der Italiener um seine schwerkranke Mutter, die im Rollstuhl sitzt, und er ging seinem Beruf nach, von dem niemand glaubte, daß er lebensgefährlich werden könnte.

Der Montblanc-Tunnel galt als sicher. Am Mittwoch, als Tinazzi wieder mit seiner BMW unterwegs war, entdeckte er, daß ein belgischer Lkw im Tunnel brannte. Er stoppte, begriff sofort den Ernst der Lage. Ihm blieb noch eine Stunde Zeit. Er riß die Lkw-Fahrer förmlich aus ihren Wagen, setzte sie auf sein Motorrad und brachte sie aus dem Tunnel. Dreimal kehrte er in das Inferno zurück, jedesmal brachte er einen der eingesperrten Männer hinaus. Autofahrer, die es selbst geschafft hatten zu fliehen, warnten ihn, daß sich das Feuer immer schneller ausbreite. Trotzdem fuhr Tarlazzi ein viertes Mal in den Tunnel. Es gelang ihm noch, einen Fahrer, der schon das Bewußtsein verloren hatte, aus seinem Wagen zu ziehen, aber der Rauch machte es ihm unmöglich, mit dem Motorrad wieder hinauszufahren. Pierlucio Tinazzi schleppte den Fahrer in den L-förmigen Rettungsraum Nummer 20. Dort konnte er noch der Zentrale über eine Gegensprechanlage Bescheid geben: "Ich bin in einem Rettungsraum mit einem Mann, dem es nicht gutgeht." Sekunden später schmolzen in der Hitze die Kabel der Sprechverbindungen. Es war 11.45 Uhr.

Die Türen des Rettungsraums lassen sich von innen nicht öffnen. Sie sind so ausgelegt, daß Menschen in Panik gar nicht erst versuchen können, in den Tunnel zu laufen - also in den sicheren Tod. Die Konstruktion der Räume sollte einen sicheren Aufenthalt für 120 Minuten gestatten, selbst bei extremer Hitze im Tunnel. Es hat nicht gereicht.

Die Feuerwehrleute, die wußten, daß der Motorradfahrer irgendwo sein mußte, verloren jede Hoffung, als sie sich dem Rettungsraum 20 näherten. Die Tür war noch immer sehr heiß, der Asphalt vor dem Raum geschmolzen. Nach Meinung von Brandschutzexperten herrschte hier stundenlang eine Temperatur von mehr als 1000 Grad Celsius. Die Feuerwehrleute fanden die Körper der beiden erstickten Männer, sie hatten sich aneinandergelehnt, als ob sie schliefen.

Mindestens 40 Menschen sind in der Feuersbrunst ums Leben gekommen, 35 Tote wurden bis zum Freitag abend geborgen. Mehr als 30 Autos sind nach vorsichtigen Schätzungen der Montblanc-Tunnelgesellschaft verbrannt. "Es handelt sich um eine vorläufige Bilanz. Das Feuer ist noch nicht ganz gelöscht. Einige Brandherde flackern immer wieder auf. Der Sachschaden durch Steinschlag und heruntergestürzte Betonplatten, ausgelöst durch die enorme Hitze, ist beträchtlich", gab die Präfektur des Departements Haute-Savoie bekannt.

Giftige Rauchschwaden und Hitze behinderten die Arbeit der Rettungsmannschaften auch 48 Stunden nach dem Drama. Trotz Atem- und Sauerstoffgeräten mußten die Feuerwehrleute auf italienischer und französischer Seite zu den Tunnelausgängen zurückkehren. Ein Einsatzleiter: "Wir wissen nicht, wann wir bis zur letzten noch unerforschten Zone von 300 Metern vorstoßen können."

Ausgelöst wurde die Katastrophe in der Mitte des 11,6 Kilometer langen Tunnels durch einen Motorbrand des mit Mehl, Margarine und Getreide beladenen belgischen Lastwagens. Durch die Ventilation und den Luftsog griff der Brand rasch auf entgegenkommende und nachfolgende Lkw und Pkw über. "Es war ein Bild wie in Dantes Hölle", sagten Feuerwehrleute, die sich am Freitag der bisher unzugänglichen Zone nähern konnten. Verkohlte Leichen lagen zwischen verbrannten Karosserien und Metallteilen. Ein geschmolzenes Auto war in den Zement eingesackt. Es mußte mit einem Bulldozer ausgegraben werden, um den Weg für die Feuerwehr frei zu machen.