Die kleine Hirnanhangsdrüse ist nur so groß wie ein Kirschkern. Doch wenn sie nicht mehr richtig funktioniert, kann sie den Körper gewaltig aus dem Takt bringen.

Im Frühling 1995 fing es an. Lisa (29) hatte plötzlich Haarausfall: Über 150 Haare täglich zählte die junge Frau im Waschbecken, auf dem Kopfkissen und Pullis. Ihr Haar war stumpf und ließ sich kaum noch kämmen. Gleichzeitig nahm die Körperbehaarung zu. Zunächst dachte ihr Gynäkologe an eine Erhöhung der männlichen Hormone und veranlaßte eine Blutuntersuchung. Jedoch bewegten sich die Werte im Normbereich. Also mußte die Ursache woanders liegen.

Dann bemerkte Lisa, daß ihre Brüste an den Seiten spannten und größer wurden, und zwar nicht nur unmittelbar vor der Regel, sondern während des halben Monatszyklus, der bei ihr statt der normalen 28-30 nur 23 Tage dauerte. Als sie auch noch über Druckgefühle in der Schilddrüsenregion klagte, überwies der Frauenarzt sie zu einem Endokrinologen, einem Hormonspezialisten. Die Bestimmung aller Hormonwerte ergab neben einer leichten chronischen Schilddrüsenentzündung einen deutlichen Prolaktinüberschuß.

Hypophyse steuert Hormone

Prolaktin ist ein Hormon, das sowohl Männer als auch Frauen haben und das in Streßsituationen leicht ansteigen kann; seine Aufgabe ist es, die Milchproduktion in den Milchdrüsen stillender Frauen anzuregen. Aber Lisa hatte keine Kinder. Da der Prolaktinwert je nach Tageszeit und Tagesform schwanken kann, wurden zur Sicherheit verschiedene Blutproben entnommen. Doch es blieb dabei: Lisas Prolaktinwert war eindeutig erhöht.

Doch woher rührte diese Prolaktinüberproduktion? Die Ausschüttung dieses Hormons wird vor allem von der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse, gesteuert. Dieses kirschkerngroße Organ befindet sich zehn Zentimeter hinter der Nase unter dem Gehirn und regelt auch die Funktion von Schilddrüse, Nebennieren und Eierstöcken bei der Frau sowie der Hoden beim Mann. Wenn eins der Hormone zuviel oder zuwenig vorhanden ist, gerät die gesamte Hormonachse aus dem Gleichgewicht, und es kann zu Folge-Problemen an Organen kommen, die nicht ursächlich krank sind. Bei Lisa waren die weiblichen Geschlechtshormone durch Prolaktin unterdrückt, so daß die männlichen Hormone, die auch im Körper der Frau vorhanden sind, stärker wirken konnten. Haarausfall und Körperbehaarung waren damit erklärt, ebenso die Störung der Schilddrüsenfunktion.

Ein gutartiger Tumor

Um der Ursache für diese Überproduktion auf die Spur zu kommen, führte ein Radiologe bei Lisa eine Kernspintomographie des Schädels durch. Dabei wird der Patient in einen Tunnel gefahren und muß dort 15 Minuten absolut ruhig liegen - das ist vielleicht unangenehm, aber ungefährlich. Bei der Kernspintomographie werden keine Strahlen benutzt; sie beruht auf dem Prinzip der Magnetresonanz.

"Die Diagnose traf mich dann wie ein Schlag", erinnert sich Lisa. "Völlig unüberlegt sagte mir da ein Arzt: ,Mädel, Sie haben einen hormonaktiven Tumor im Kopf . Einen Tumor! Und dann im Kopf! Das hieß für mich: ,Du stirbst bald . Daß das nicht stimmte, erfuhr ich erst nach und nach."

Gerade medizinische Laien denken bei dem Begriff Tumor häufig an Krebs, dabei bedeutet er eine Geschwulst, die nicht bösartig sein muß. Lisas Hypophysengeschwulst oder Hypophysenadenom, wie es genannt wird, war gutartig wie die meisten. Ihr Adenom hatte einen Durchmesser von 3,5 mm. Bis zu einer Größe von einem Zentimeter spricht man von einem Mikroadenom, alles darüber sind sogenannte Makroadenome. Schüttet der Tumor Prolaktin aus, ist es ein Prolaktinom. Die daraus resultierende Krankheit, die Überproduktion von Prolaktin, wird als Hyperprolaktinämie bezeichnet. Sie kann in jedem Lebensalter auftreten.

Lisas Symptome, die zur Entdeckung ihres Mikroadenoms geführt hatten, waren nicht gerade typisch. Viel häufiger klagen Patientinnen über Störungen der Menstruationszyklen, Ausbleiben der Regel, Unfruchtbarkeit, Spannungsgefühl der Brust, Ausfluß aus der Brust und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Auch Männer können von der Hyperprolaktinämie betroffen sein, sie leiden unter Potenzstörungen, vermindertem Bartwuchs, nachlassender Körperbehaarung. Mögliche Symptome bei beiden Geschlechtern: mangelnde Lust auf Sex, Kopfschmerzen, Sehstörungen.

"Die Gefahr bei einem Hypophysenadenom besteht vor allem darin, daß es wächst und irgendwann auf den Sehnerv drückt. Wenn es nicht behandelt wird, droht im Extremfall die Erblindung", erläutert Professor Hans-Jörg Breustedt, Endokrinologe in einer Altonaer Gemeinschaftspraxis. Das Sehvermögen wird schleichend schlechter und bleibt vom Patienten oft unbemerkt. "Deshalb schicken wir unsere Patienten auch zum Augenarzt. Der prüft, ob das Gesichtsfeld eingeschränkt ist, also die Fähigkeit, auch an den Rändern noch gut sehen zu können."

Erst ab einer Größe von einem Zentimeter wird eine Operation in Erwägung gezogen. Und die geschieht in 90 Prozent der Fälle durch die Nase; nur bei ungünstiger Lage des Tumors muß durch eine Öffnung in der Schädeldecke operiert werden. Da sich die OP auf kleinstem Raum abspielt, kann das Adenom nicht immer vollständig entfernt werden. Außerdem besteht das Risiko einer Verletzung des Hypophysengewebes.

Die Folge: Ausfall oder Fehlregulierung der Hormone, die von der Hypophyse ausgeschüttet werden. In diesem Fall ist der Patient lebenslang auf Hormonsubstitution angewiesen, also auf die Einnahme von Hormonen in Form von Medikamenten. Und leider kann das Adenom bei einigen Operierten wieder nachwachsen.

Eine Alternative zur OP ist die medikamentöse Therapie, die früher von vielen Betroffenen wegen der Nebenwirkungen nicht so gut vertragen wurde: die Gabe von Prolaktinhemmern als Tabletten. Das sind sogenannte Dopaminagonisten, die zwar die Prolaktinausschüttung nicht verhindern können, aber den Prolaktinspiegel und die Wirkung unterdrücken. Diese Mittel können am Anfang Magenbeschwerden, niedrigen Blutdruck und Schwindel provozieren. Sie werden deshalb einschleichend genommen, d. h. die Dosis wird langsam gesteigert.

"Mittlerweile wurde ein Prolaktinhemmer mit dem Wirkstoff Cabergolin entwickelt, den die Patienten sehr gut vertragen", sagt Professor Breustedt. "Dieses Medikament macht in vielen Fällen die Operation überflüssig, weil das Cabergolin nicht nur den Prolaktinspiegel sinken, sondern auch die Hypophysentumore schrumpfen läßt."

Patienten mit einem Prolaktinom müssen lebenslang unter ärztlicher Beobachtung bleiben - Blutkontrollen und Kontrolle der Tumorgröße durch bildgebende Verfahren wie Computertomographie oder Kernspin sollen regelmäßig durchgeführt werden. Warum ein Hypophysentumor entsteht, ist noch nicht geklärt. Bestimmte Medikamente wie Antidepressiva sollen jedoch ein Auslöser sein.

Inzwischen lebt Lisa ganz gut mit ihrem Prolaktinom - obwohl sie immer noch von Schwindel und Haarausfall geplagt wird.