Mit arktischen Minusgraden versuchen Mediziner der Inselklinik Heringsdorf, Rheuma, Arthrose, Neurodermitis und Schuppenflechte zu bekämpfen. Die Erfolge der Ganzkörper-Kältetherapie lassen hoffen.

Flotte Rhythmen dröhnen aus den Lautsprechern, zu denen sich zwei Frauen im Badeanzug, Pudelmütze, Mundschutz und Handschuhen bewegen. Die Tänzerinnen vergnügen sich allerdings nicht in einer Disko, sondern in einer sogenannten Kältekammer. Bei einer Temperatur, die einem kalte Schauer über den Rücken laufen lassen: minus 110 Grad Celsius. Mit der arktischen Kälte rücken die Ärzte des Inselklinikums Heringsdorf auf der Insel Usedom unter anderem Rheuma- und Arthroseschmerzen ihrer Patienten zu Leibe. Die Behandlung verbessert offensichtlich auch den Juckreiz bei Neurodermitis und hilft bei Schuppenflechte.

Kälte als Therapiemittel ist seit Urzeiten bekannt: Der kalte Messerrücken beim Gerstenkorn, essigsaure Tonerde bei Verstauchungen, kühle Umschläge bei Fieber und lokale Eisbehandlungen bei Entzündungen sind Bestandteile der Volksmedizin. Die Ganzkörper-Kältetherapie geht noch einen Schritt weiter. "Bei dieser Methode wird die körperliche Schmerzleitung blockiert, die Beweglichkeit der erkrankten Gelenke wird verbessert. Außerdem werden verkrampfte Muskeln gelockert und auf das Immunsystem regulierend eingegriffen", erklärt Chefarzt Prof. Dr. Winfried Papenfuß.

Hilfreich sei der eine halbe Minute bis drei Minuten dauernde Aufenthalt in der extremen Kälte besonders bei chronischen, entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Skelettsystems, bei Weichteilrheumatischen Krankheiten (Fibromyalgie), Psoriasis und nach neuesten Erkenntnissen auch bei Neurodermitis.

Glückshormone werden durch Kälte ausgeschüttet

Und warum ausgerechnet minus 110 Grad? "Weil Untersuchungen zeigten, daß die positive Wirkung nicht bei minus 60 oder minus 80 Grad eintritt, sondern bei minus 110 Grad", versichert Prof. Papenfuß und verweist auf seinen Kollegen Prof. Reinhard Fricke vom St.-Josef-Stift in Sendenhorst. Der Rheumatologe nutzte das Wissen des japanischen Arztes Yamauchi und eröffnete 1984 die erste Kältekammer außerhalb Japans in Sendenhorst. In der Usedomer Inselklinik wurde die Kältekammer vor knapp anderthalb Jahren eröffnet und bereits mehr als 500 Patienten behandelt.

Vor allem bei Auto-Immun-Erkrankungen, bei denen körpereigenes Gewebe attackiert wird, greift die Ganzkörper-Kältetherapie ein. "Die guten Helferzellen des Körpers werden durch die Kälte gefördert, die schlechten blockiert", kommentiert Papenfuß die Wirkung.

Außerdem wird vermutet, daß durch die arktische Kälte die im Gehirn produzierten schmerzmildernden Endorphine freigesetzt werden.

"Bereits nach der ersten Behandlung können selbst Patienten mit den größten Schmerzen ihre Gelenke drei bis vier Stunden ohne Schmerzen bewegen", berichtet der leitende Arzt Dr. Eberhard Peter. Dieser Effekt wird für physiotherapeutische Übungen genutzt, die sich unmittelbar an die Kältebehandlung anschließen. "Eine Patientin, die kaum noch laufen konnte, hatte nach einer Behandlung vor lauter Glückshormonen sogar ihre Krücken vergessen", erinnert sich Peter.

"Das klingt ja sehr gut", murmelt ein wartender Patient","aber erfriere ich da drin nicht?" "Keine Sorge", lächelt Dr. Henning Brauer und nimmt die Patientin Beate K. (40) an die Hand, um mit ihr in die Kältekammer zu marschieren. Die Kammer wird durch flüssigen Stickstoff über Wäremaustauscher auf die gewünschte Temperatur gebracht. Warum sich Beate diesen Extremen aussetzt, hat seinen Grund: Sie leidet seit Jahren an Schmerzen am ganzen Körper, die bisher nicht in den Griff zu bekommen waren.

Beim ersten Gang verschlägt es fast den Atem

Nur mit einem Badeanzug bekleidet und mit Mundschutz, Mütze, Handschuhen, dicken Socken und festen Schuhen gegen die Kälte gewappnet, schreitet sie in die aus drei Sektionen bestehende Kältekammer. "Zum Gewöhnen herrscht in der ersten Kammer minus zehn Grad, in der zweiten Kammer minus 60 Grad", schmunzelt Dr. Brauer mit der Patientin an der Hand. Erst in der dritten und therapeutischen Sektion verschlägt es einem fast den Atem: minus 110 Grad! Knapp eine Minute hält es Beate tanzenderweise bei ihrem ersten Gang in der Kälte aus, wobei sie ständig ärztlich per Monitor überwacht wird. Danach stürmt sie aus den Kammern, strahlt und fühlt sich pudelwohl. Der Arzt mißt ihre Hauttemperatur: zehn Grad an den Armen, acht Grad an den Beinen.

"Unmittelbar nach dem Verlassen der Kältekammer stellt sich ein angenehm warmes Gefühl am ganzen Körper ein, und die Gelenke lassen sich leichter bewegen", kommentiert Prof. Papenfuß die Stimmung der Patientin. Bereitwillig zeigt Patient Gerd M. (36), der seit seinem fünften Lebensjahr an schwerster Neurodermitis leidet, ergänzend zu den Worten des Chefarztes seine gut verheilte Haut. Als er in die Inselklinik kam, konnte er sich kaum noch bewegen. Seine Haut war fast überall aufgeplatzt. "In den letzten drei Wochen bin ich dreimal täglich in die Kältekammer gegangen und jetzt geht es mir wieder besser", freut sich Gerd M.

Bei einem anderen Patienten habe sich der Juckreiz einer Schuppenflechte für mehrere Stunden verflüchtigt, sagt Dr. Peter. Inzwischen sind mehr als 20 Patienten mit chronischen Hauterkrankungen in der Kältekammer behandelt worden. "Auch hier nimmt die Dauer der juckreizfreien Zeit mit der Anzahl der Behandlungen zu", erklärt Peter.

Vermutlich liegt noch viel mehr "Glück in der Kälte". "Bei einer Behandlung über einen längeren Zeitraum sind einige Patienten bereits fünf Monate schmerzfrei geblieben", beschreibt der Chefarzt die bisherigen Erfahrungen mit der Langzeitwirkung der Therapie. "Aber wir müssen noch viel erforschen", resümiert Papenfuß. Die arktische Kälte könne allerdings keine Wunder vollbringen, betonen die Mediziner. Sie gebe Linderung, aber keine vollständige Heilung der Krankheit.

Um speziell der lindernden Hautauswirkung auf die Spur zu kommen, sucht die Klinik nach einem norddeutschen Universitäts-Klinikum. Gemeinsam mit dem Berufsverband der Dermatologen sollen dann die Ergebnisse der Kälte-Therapie bei Hauterkrankungen erforscht werden. Die Studie soll auch den wirtschaftlichen Aspekt näher beleuchten. "Je länger die Patienten schmerzfrei sind, desto weniger Medikamente brauchen sie", erklärt Papenfuß.

Für die Patienten mit Dauerschmerzen bedeutet es noch mehr: Jede Stunde ohne Beschwerden bringt ihnen ein Stück Lebensqualität zurück. Wo gibt es Kältekammern? Bundesweit existieren vier Kältekammern mit minus 110 Grad. Von Hamburg aus ist die nächstgelegenste Klinik die Inselklinik Heringsdorf auf dem wunderschönen Eiland Usedom. Allen Erfolgen zum Trotz gibt es die Therapie bisher nicht auf Krankenschein - sie muß aus eigener Tasche bezahlt werden, da es sich um kein medizinisch anerkanntes Heilverfahren handelt. Eine 14tägige Kur inklusive Unterbringung in der Klinik, Vollpension, ärztlicher Untersuchung und 20 Behandlungen in der Kältekammer kostet etwa 1800 Mark. Die Kosten für eine einzelne Kältekammerbehandlung betragen etwa 30 Mark.

Weitere Informationen können unter der Rufnummer 038378/591 30 bei der Inselklinik Heringsdorf eingeholt werden.