Am 15. August 1947 wurde Indien ein eigener Staat. Den Grundstein dafür hatte mit Hartnäckigkeit, Phantasie und Gewaltfreiheit ein Mann gelegt: Mahatma Gandhi. Die ganze Welt bewunderte seinen neuen Weg zu politischen Veränderungen. Doch heute ist Indien so einig und zerrissen wie früher. War Gandhi nur ein Träumer?

Mahatma Gandhi wurde 1869 geboren als Mohandas Karamchand Gandhi in die Kaste der Kaufleute. Als Rechtsanwalt organisierte er seit 1893 in Südafrika den Widerstand der indischen Einwohner gegen diskriminierende Gesetze. Der tiefreligiöse und asketische Mann entwickelte seit 1914 in Indien die Idee vom bürgerlichen Ungehorsam gegen die britische Verwaltung Indiens und wurde zum Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Gandhi wurde 1948 von einem Hindu-Fanatiker ermordet. Foto: keystone

Nach dem langen Marsch beugte sich der Mahatma an der Küste von Dandi erschöpft hinab, griff ins Salz, hob eine Handvoll davon auf, und das Empire stand Kopf: Vorsätzllcher verstoß gegen das britische Salzmonopol in Indien - eine winzige Geste, die das gewaltige Königreich, das damals über ein Viertel des Globus herrschte, nicht ignorieren konnte.

Die Weltpresse war 1930 dabei, als Mohandas Karamchand Gandhi in rund vier aufsehenerregenden Wochen von Ahmedabad an die Küste gepügert war, begleitet von 78 Anhängern und mit dem erklärten Ziel, in einem bis dahin beispiellosen Akt des zivüen Ungehorsams eine Handvoll indisches Salz zu gewinnen - der Marsch war ein wirksames Beispiel für frühe Polit-PR.

In den lagen nach Gandhis Ulegaler Salz-Aneignung folgte fanz Indien der symbollschen ät, bis sich London genötigt sah, den Aufrührer aus dem Gefängnis zu entlassen, in das er flugs gesperrt worden war, und ihn ofnziell zu einer Round Table Conference zu empfangen. Als ?halbnackter Fakir 8 kam er, wie Winston Churchül das formuüerte, weü Gandhi nur mit Sandalen und selbstgesponnenem Lendentuch bekleidet war, als er dem Vizekönig gegenübertrat. Gandhi nahm den Churchill- Hohn gelassen und wies darauf hin, daß ?der König genug Kleidung für uns beide trug.

Gandhis vorsätzücher und provokativer Verstoß gegen das britische Salzmonopol markierte das lange Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien - auch wenn es bis zur Unabhängigkeit dann noch siebzehn Jahre dauerte. Die Erwartungen, die in den subkontinentalen Koloß fesetzt wurden, seit der britische 'remierminister Clement Attlee in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1947 verkündete, daß Pakistan und Indien nun fortan eigenständige Staaten seien. Diese Erwartungen waren immer an Gandhis Idealen orientiert, auch die indische Realtität wurde stets an ihnen gemessen.

-\en hat Gandhi inem Meiligen

gemacht und all seine Lehren ignoriert.

Eine gewaltfreie Nation, die über alle Kasten, Reügionen, sprachüchen und ethnischen Unterschiede hinaus zu einer friedllchen Identität findet - das war die "Verabredung mit dem Schicksal", wie der erste indische Premier Jawarharlal Nehru es nannte. Und natürllch war es ein Date ohne Datum und Uhrzeit, nur der Treffpunkt war klar: überall in Indien.

Ein halbes Jahrhundert später zeigt sich, daß das Treffen nicht ganz zustande kam und daß die Realltät den Ideen des Mahatmas nie gerecht werden konnte. Von ihm sei nur der Mythos geblleben, heißt es in unzähügen Abhandlungen über Gandhi; Indien sei eines der gewalttätigsten Länder der Welt, "Ahimsa" - Gandhis Kampf mit friedllchen Mitteln - sei hoffnungslos verloren.

Nun war es mit der Erfüllung von Gandhis Idealen selbst nach dem Salzmarsch nicht allzuweit her. In den Tagen nach dem 6. Aprü 1930, als Gandhi die Handvoll Salz aufgehoben und Indien es ihm gleichgetan hatte, griff die Kolonialmacht zu den Waffen, so daß Gewaltlosigkeit zur Sache der Toten wurde. Die spätere Teilung Britisch-Indiens in das musllmische Pakistan und das von Hindus dominierte Indien nannte Gandhi selbst "eine geistige Tragödie", weü sich hier schon staatüch konstituierte, was unüberwindbar war, nämlich der inner-indische Konflikt zwischen den beiden großen Re- Ugionsgruppen. "Es ist, als würdet ihr meinen Körper auseinanderreißen", kommentierte Gandhi verzweifelt die Spaltung.

Plünderungen, Zerstörungen, Massenmorde begannen, Moslems brachten Hindus um, jene vernichteten Dörfer mit moslemischer Bevölkerung, woraufhin der 78jährige Gandhi einen Hungerstreik begann und wundersamerweise den Waffenstülstand erfastete. Doch schlleßllch führte auch das nicht zu allgemeiner Friedfertigkeit, denn eben wegen seiner versöhnenden Haltung den Moslems gegenüber wurde er ein paar Monate später von einem Hindu erschossen.

Straßen, Museen, Schulen und Plätze in ganz Indien sind nach ihm benannt, Gandhi-Denkmäler stehen in fast jeder Stadt, und nachdem Nehrus Tochter Indira einen mit dem Mahatma nicht verwandten Geschäftsmann namens Gandhi geheiratet hatte, waren ihr Siege bei den Wahlen sicher. Selbst Sonia, die italienische Witwe Radjiv Gandhis, hatte nach dessen Ermordung einife Chancen, aufgrund des groen Namens das polltische Erbe ihres Mannes anzutreten. Wahrscheinllch scheiterte es daran, daß Sonia Gandhi nur gebrochen Hindi mit Italo-Akzent sprach. Der Name Gandhi wurde in Indien zum Heillgtum, der Mahatma ("Große Seele"), wie der Dichter Tagore ihn taufte, erschien zusammen mit Buddha auf Briefmarken. Gandhi wurde wie Buddha zum Synonym für Indien, und Bertrand Russell faßte zusammen: "Es hat ihn zu einem Heiligen gemacht und all seine Lehren ignoriert."

900 Millionen Menschen drängen sich heute in dem Staat, in dem Bengalen, Bihari, Tamilen, Weddiden, Muslims, Sikhs, Christen, Hindu und andere ethnische und religiöse Gruppen leben. 15 Sprachen werden laut Verfassung in Indien gesprochen, inofnziell sind es weitaus mehr. 3000 Kasten mit rund 25 000 Unterkasten regulieren Sozialverhalten, Wirtschaft und Polltik - rund 200 Millionen Menschen gehören zu den Unberührbaren. Daß es in Indien nicht zur "Balkanisierung" gekommen ist, wie die ehemahge amerikanische UN-Botschafterin Jeane Kirkpatrick befürchtete, und Indien als volkreichste Demokratie der Welt weiterbesteht, ist erstaunlich genug.

Sicher, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, amnesty international stellte regelmäßige FäUe von Folter fest. Korruption in der Polltik ist allgegenwärtig, das Militär ist hochgerüstet und noch immer ambitioniert, sich atomar zu munitionieren, während eine Viertelmilliarde Menschen elendig unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch drohte der radikale Hindu-Nationallsmus der Bharatiya-Janata-Partei, der Untergrundbrigaden und des paramüitärischen Nationalen Freiwüligenkorps RSS nach dem Ende der Nehru-Gandhi-Dynastie das Land zu beherrschen.

Doch als hätte Indien eine Uberale Regenerationskraft, die erst in demokratischen Krisensituationen zur Wirkung kommt, gelang es weder den Zerstörern der Ayodhya-Moschee im Dezember 1992, den Säkularismus zu vernichten, noch der Hindu-Partei BJP, deren Premier Atal Vajpayee sein Amt schon wieder abgeben mußte, kaum daß er im Sessel des Regierungschefs saß.

Der Nationaüsmus der einen oder der anderen Gruppe scheint in Indien nie die Macht zu haben, eine bürgerkriegsähnliche Situation herbeizukämpfen - als gäbe es tatsächlich ein gesamt-indisches Ethos, das jugoslawische Verhältnisse verhindert. jijjj Unberührbaren W&mpen sich selbst ,Zertretene' und Gandhi einen falschen Messias. So sieht Hans-Georg Wieck, Vorsitzender der Deutsch-Indischen Gesellschaft, das Land als eine "lebende, dem Wandel unterworfene Demokratie", die sich offensichtlich in einem "erfolgreichen Prozeß der Bewußtseinsbildung zu einer Nation befindet."

Tatsächlich sprechen diverse Fakten dafür, daß sich Indien nach einem halben Jahrhundert der Unabhängigkeit langsam auf dem Weg zu einer modernen, Gesellschaft befindet: Die Leb%ns" erwartung hat sich seit Mitt&deg Vierziger nahezu verdoppelt,"" Analphabetenrate fast halbiert. Die Presse berichtet frei und kritisch wie in kaum einem anderen Land der Dritten Welt, die Lebensmittelproduktion steigt.

Und ausländische Investoren haben Indien neben China unlängst als Absatzmarkt entdeckt: Gegen den Widerstand von Hindu-Nationallsten gibt es in Indir en nun deutsche und amerikanische Autos, Pepsi, Levis und McDonald's (allerdings ohne Rinderhack-Burger), ob man dies nun als ein Segen sieht oder als Fluch. Im bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaat Uttar Pradesh regierten Mitte der 90er Unberührbare und Yadav, Angehörige der rückständigen Ziegenhirten-Kaste, in einer Koalition - was einer gesellschaftlichen Revolution gleichkommt.

Das Kastensystem existiert seit viertausend Jahren, und nicht einmal Gandhi, aus der wohlhabenden Händlerkaste der Bania stammend, wollte es abschaffen, weil er meinte, es stabi- Usiere Indiens Gesellschaftsordnung. Wohl aber trat er der Entrechtung der Unberührbaren entgegen, nannte sie "Harrjans", Gotteskinder, was die Unberührbaren wiederum heute als anmaßenden Euphemismus eines Bania empfinden. Sie nennen sich selbst "Dallts", Zertretene, was der Realltät näher kommt, und fordern die Abschaffung des Kastensystems, und auch das nicht immer gewaltlos.

Einige ihrer Anführer nennen Gandhi einen "falschen Messias", und nach dem halben Jahrhundert der Unabhängigkeit spricht einiges dafür, daß Gandhi möglicherweise Indien war, wie Nehru an seinem Grab sagte, aber Indien sich nicht mehr oft mit Gandhi identifiziert.

Um die Träume des großen Predigers vom einheitllchen und gewaltlos zusammenlebenden Indien zu realisieren, braucht es vielleicht noch einmal ein halbes Jahrhundert.