i

Leonardo da Vincis Zeichnung zeigt den Menschen als Objekt wissenschaftlicher Betrachtung. Doch wie weit dürfen Menschen als Versuchskaninchen benutzt werden? Seit 1980 gibt es in Hamburg eine

freiwillige Ethik-Kommission der Ärztekammer, die Mediziner und Forscher in dieser ethischen Frage beraten. Vergangenes Jahr beschloß der Bundesrat, daß Besetzung und Aufgabe derartiger Kommissionen am 17. August 1995 bundesweit einheitlich geregelt sein müssen. Repro: akq

Der Schiffsarzt James Lind hatte Skorbut an Bord. Den Matrosen bluteten Schleimhäute und Zahnfleisch. Luid entschloß sich, an seinen Matrosen verschiedene Ersatz-Kuren auszuprobieren: Mit Seewasser, mit Zitrusfrüchten, mit Bitterstoffen. Die zwölf Kranken teüte er dazu in sechs Gruppen ein, je zu zweit. Die beiden Matrosen, denen Zitrusfrüchte verabreicht wurden, konnten geheut werden. Damit war die Therapie gefunden: Zitronen essen.

Im Jahr 1747 löste das Experiment an Menschen keine ethische Diskussion aus. Obwohl die Methode, die Dr. Lind anwendete, die des "try and error" war. Heute ist sie umstritten. Denn durch wissen entstehen ethische Probleme: Soll in Zukunft die Bitter- oder Zitronenkur angewandt werden? Was ist das beste für Patienten?

Das allgemeine ethische Gewissen entwickelt sich rapide; medizinische Ethik ist heute eine so komplexe Wissenschaft, daß auch Fachleuten über die Grundsätze ihrer täglichen Arbeit unsicher sind. "Die Probleme, vor denen wir heute stehen, sind vorwiegend Resultate von Erfolgen, nicht von Mißerfolgen", sagt der Bielefelder Wissenschaftssoziologe Wolfgang Krohn.

Medizinische, technische und chemisch-pharmazeutische Errungenschaften - aber auch Experimente, die die Menschenwürde mißachteten, bis hm zu Grausamkeiten, schufen neue Sensibüitäten. Und was die Codes medizinischer Ethik gestatten oder verbieten, kann jeden Tag für jeden Menschen lebenswichtig werden.

Szenario 1: Verkehrsunfall. Der Notarzt trifft ein. Das

schwerverletzte Opfer steht unter Schock. Der Arzt nimmt aber erst eine Dosis Blut ab und injiziert dann ein Anti-Schock- Mittel. Die Blutentnahme dauert etwa 30 Sekunden. Daraufhin wüd der Patient in die Künik gebracht. Handelte der Arzt verantwortungsbewußt?

Die Blutprobe dient dazu, die hormonale Zusammensetzung des Blutes in einer Schocksituation näher zu erforschen. Sie nützt dem Verletzten nichts. Im Moment der Blutabnahme wird der Notarzt zu einem Mitarbeiter der Forschung. Er dient dann nicht dem Verletzten, sondern der Option, künftige Schock-Patienten besser behandeln zu können. Der Verletzte kann der Blutabnahme aber nicht zustimmen, da er nicht entscheidungsfähig ist und die Zeit eüt. Sind die 30 Sekunden ein minimales, ein zumutbares Risiko? Und wenn ja, wem wird es zugemutet? Und wer mutet es zu?

Es könnten die 30 Sekunden sein, die über Leben und Tod entscheiden. Ist es andererseits vertretbar, künftigen Verkehrsopfern wüksamere HUfe vorzuenthalten und die diesbezüg- Uche Forschung eüizustellen?

Solche Fragen diskutierten kürzüch internationale Wissenschaftler auf einem Symposium des Hamburger Instituts für Sozialforschung unter der Leitung von Regine Kollek und Robert Proctor.

Ethisch-medizinische Codes existieren seitHippokrates. Der Ur-Vater der Arzte legte medizinische Pflichten fest, zog aber auch die ersten Grenzen. Damals sollte der Arzt sich entfernen, wenn der Tod eintritt. Davon kann nicht mehr die Rede sein - in den Prozeß des Todes wüd vielfach eingegriffen, oft so erfolgreich, daß er gestoppt wüd und der Patient nicht stübt, etwa beim Herzinfarkt.

Was am Menschen erlaubt und was verboten ist, wurde zu einer Gratwanderung in Wissenschaft, Medizin und Technik. 1900 kümmerte sich in Preußen erstmals ein Minister um die Regullerung von Experimenten m Krankenhäusern. 1929 verfaßte der Reichsgesundheitsrat ethische Regem für Versuche am Menschen. Der Nürnberger Code von 1946 wurde angesichts der NS-Menschenexperimente geschaffen. Kernsatz: Jeder Arzt ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Die Verantwortung dafür ist nicht zu übertragen.

Im Helsinki-Code des Welt- ärztebundes von 1975 ist das Prinzip des informed consent, der informierten Zustimmung, weiterhin Voraussetzung für Experimente am Menschen. Der Patient muß über das Experiment informiert werden, über Risiken, Verlauf, Absicht und Alternativen und dem dann ausdrücküch zustimmen. Der ge- Ethik-Kommission. genwärtig diskutierte Entwurf einer europäischen Bioethik- Konvention fordert: Experimente sollen nur gestattet sein, wenn sie zum direkten Nutzen des Patienten sind. Wie sieht es dann aus mit der Blutprobe, die

dem Unfallopfer abgenommen wurde? Kerne informierte Zustimmung, kein direkter Nutzen für das Opfer. Handelte der Notarzt unethisch?

"Wir alle profitieren von den Errungenschaften der Medizin, die auch durch Versuche am Menschen gewonnen wurden", sagt der Erlanger Rechtsmediziner Hans-Bernhard Wuerme- Ung. Er spricht von der "Soüdantätspflicht" des einzelnen. "Aber die ErfüUung moralischer Pflicht kann nicht erzwungen werden. Es sei denn", so Wuermellngs Ausnahme- Vorschlag, "es handelt sich um ein minimales Risiko." Sind 30 Sekunden ein minimales Risiko?

Die Ethik-Kommission von Niedersachsen verwehrte einer Gruppe von Notärzten, die Unfallopfern Blut abnehmen wollte, die Zustimmung. Begründung: Nur besonders erfahrene Arzte könnten sofort beurteüen, ob die 30 Sekunden lebensentscheidend seien. Die Antragsteller waren der Kommission zu unerfahren. Erfahrung: Wieder eine eher unscharfe Kategorie in der Diskussion um ärztliche Ethik.

Szenario Nummer 2: Ein älterer Herr leidet unter Krebs im Endstadium. Er wird gefragt, ob Uim ein Harnblasenkatheter angelegt werden darf, um einen Versuch zu ermögllchen, der für spätere Krebspatienten hilfreich sein könnte. Der ältere Herr überlegt und stimmt zu. Er sieht das als eine Kleinigkeit an, mit der er vor seinem Tod noch ein gutes Werk tun kann.

Ein "minimales Risiko", eine "fremdnützige Kleinigkeit", unter diesen Umständen möchte nicht nur Wuermeling Versuche am Menschen erlauben. Auch die US-Ethikerin Ruth Mackün ist dafür, "ein Experiment zu erlauben, bei dem etwa ein sterbender Vater seinem kranken Sohn helfen kann". Mit einer "fremdnützigen Kleinigkeit". Was ist eine Kleüiigkeit? Für Urologen ist es ein Harnkatheter. Für die Ethikkommission ist das meist kerne Kleüiigkeit. Die Meinung der Ethikkommission ist für Arzte zwar nicht bindend. Aber wenn sie anders handeln und rechtüch belangt werden, stehen die Chancen für sie meist schlecht. Kleinigkeiten sind die elementaren Streitpunkte in Ethik-Diskussionen. Eine "fremdnützliche Kleinigkeit", das ist zum Beispiel eine Blutentnahme ohne Risiko. Wmlmenschen hat ihre Grenze, wo

Patienten sich wehren. Wenn sich - Szenario 3 - Alzheimer-Patienten dagegen wehren, obwohl sie der Kleüiigkeit einer Blutentnahme ein Jahr vorher vertraglich zugestimmt haben? Es geht um den sogenannten Odysseus-Kontrakt:

Odysseus muß während seiner Seefahrt die Gefahr der Sirenen überstehen, die mit ihrem Zaubergesang jeden ins Verderben locken. Er verklebt den Matrosen die Ohren mit Wachs. Sich selbst läßt er aber an einen Mast fesseln, weil er den Süenenklang hören wül. Er sagt: "Wenn ich euch aber bedeute, mich loszubinden, so verdoppelt die Stricke." Gegenwärtig wird in den USA diskutiert, ob eine entsprechende Vereinbarung mit Alzheimer-Patienten vertretbar wäre. Ein Patient, der weiß, daß er. an Alzheimer leidet, so die Überlegung, könne ün Anfangsstadium seiner Krankheit vertragüch festlegen, daß Uim in einem Endstadium Blut abgenommen werden dürfe, auch wenn er sich dann dagegen sträubt. Der Patient entscheidet im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte über sich selbst für eine Zukunft, in der er, wie er weiß, geistig nicht mehr voll entscheidungsfähig sein wird.

Verdoppelt die Stricke, wenn ich frei sein wül: Ist der Odysseus-Kontrakt ethisch akzeptabel? Ruth Macklin sagt: "Selbstverständlich nicht! Eine mündige Person entscheidet für eine unmündige, das ist das Eltern- Kind-Verhältnis. Wenn Eltern erlauben, ihrem Kind für Experimente Blut abzunehmen, und es wehrt sich, dann ist es unethisch, das Kind zum Nutzen eines Dritten dazu zu zwingen. Für Alzheimer-Patienten gut dasselbe. Was immer sie vorher über sich entschieden haben."

Eine zur Forschung nützüche Blutentnahme sei nur mögllch, faßt Regine Kollek zusammen, wenn der Patient im Anfangsstadium der Krankheit zustimmte und sich während der Entnahme nicht wehrt. Denn die Grenze der Forschung am Menschen ist spätestens erreicht, wo Patienten Widerstand zeigen.