Das Rätsel um den Tod der 64jährigen Paula Poschmann in der Kleingartensiedlung am Alemannenweg in Hamm ist gelöst. Die Kripo geht davon ans, daß Agathe B. (66) ihre Schwester erdrosselt hat, ehe sie versuchte, sich selbst das Leben zu nehmen. Agathe B., die nach der Tat einen Schock erlitt und kaum vernehmungsfähig ist, wurde gestern in das AK Ochsenzoll gebracht.

Als Bruno B., der 37 Jahre alte Stiefsohn von Agathe B., am Dienstag abend von der Arbeit in einem Geschäft für Waschmaschinen-Reparaturen nach Hause kam, bot sich ihm ein BUd des Grauens. In der Küche des kleinen Häuschens am Alemannenweg fand er seine Stiefmutter. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Auf dem Fußboden neben ihr lag die Leiche ihrer Schwester Paula Poschmann, den Kopf in einer Blutlache. Vermut- üch hat Agathe B., von Krankheit und Depressionen gezeichnet, ihre Schwester aus Angst vor einer ungewissen Zukunft erwürgt.

Die Bluttat am Alemannenweg ist der dritte Mordfall unter Verwandten oder engen Bekannten innerhalb von zwei Wochen, der die Hamburger Kriminalpolizei beschäftigt. Am 22. April hatte Pierre de Laporte (49) seine Geschäftspartnerin Angela Petersen (42) in seinem Auto durch zahlreiche Messerstiche getötet, ehe er sich selbst umbrachte. Eine Woche später fand die Polizei am König-Heinrich-Weg in Niendorf vier Leichen. Kaufmann Reinhard Ernst (48) hatte seine Frau Marta (42) und die beiden Söhne OUver (15) und Patrick (13) umgebracht. Dann erhängte sich Reinhard Ernst auf dem Dachboden des Einfamilienhauses. Motiv für das Famüiendrama: Schulden und seine dominante Ehefrau.

Wie konnte es zu der Geschwister-Tragödie in Hamm kommen? "Agathe B. war eine lebhafte und energische Frau. Sie hatte immer alles fest im Griff. Aber in der letzten Zeit war sie verändert. Sie klagte über starke Schmerzen. Ihr ist wohl alles über den Kopf gewachsen", sagt ein Nachbar, der der alten Frau häufig im Garten half. Nach außen führten die beiden Schwestern und Bruno B. ein unauffäUiges Dasein. Sie lebten zurückgezogen in der Siedlung am Alemannenweg. Agathe B. bewohnte das Vorderhaus, im rückwärtigen Anbau lebten Paula Poschmann und Bruno B. Die beiden rellgiösen Frauen besuchten sonntags zweimal die kathollsche Herz-Jesu-Kirche in Hamm. So gut es ging, kümmerte sich Agathe B. um das Häuschen und den kleinen Vorgarten.

Nur wenige wußten, in welch schwieriger Situation Agathe B. lebte. Sie hatte ihren Mann vor mehreren Jahren bei einem Verkehrsunfall verloren. Zu diesem Schicksalsschlag kam die Sorge um ihren labüen Stiefsohn Bruno. Von ihm und den beiden anderen Stiefsöhnen, die nicht mehr am Alemannenweg leben, konnte Agathe B. keine Hilfe erwarten. Im Gegenteü: Den Lebensunterhalt von zwei Söhnen, die zeitwei- Ug arbeitslos waren, mußte Agathe B. von ihrer knappen Rente bestreiten.

Als dann ihre nervenkranke Schwester nach Hamburg zog, übernahm Agathe B. das Sorgerecht für die entmündigte Schwester. Paula Poschmann, die als Köchin gearbeitet hatte, war Nonne gewesen, aber offensichtllch mit dem Klosterleben nicht zurechtgekommen und nervenkrank geworden.

"Probleme gab es für Agathe immer", sagt auch Hermine J. Die Schwägerin von Agathe und Paula lebt in dem kleinen Ort Lembruch bei Diepholz. Dort sind Paula und Agathe aufgewachsen. Im Februar hatte Hermine Jansen zuletzt mit Agathe B. telefoniert, zu Ostern hatte sie einen Brief nach Hamburg geschickt. "Damals war noch alles in Ordnung", sagt Hermine J. Doch in den vergangenen Wochen muß sich Agathe B.s Gesundheit erhebüch verschlechtert haben. Der früher tatkräftigen Frau muß ihre Situation immer verzweifelter erschienen sein. Ihr letzter Ausweg: Sie tötete

ihre hilflose Schwester, dann versuchte sie, sich selbst das Leben zu nehmen.

P. U. MEYER / M. KLUTH