Männliche Löwen bringen Löwenkinder um. Und das nicht etwa in Hungerzeiten. Sie fressen die Kinder auch nicht auf, sie töten sie nur. Dann traktieren sie trächtige Weibchen, die nun in der Angst und im Streß Früh- und Totgeburten zur Welt bringen. Nur zaghaft widersetzen sich die Weibchen dem Treiben der Schacher, die nicht ruhen, solange in der Großfamilie des Rudels noch junges Leben lebendig ist. Danach erst kehrt wieder Friede ein.

Was anmutet wie ein total aus den Fugen geratenes Sozialleben, ist in Löwenrudeln durchschnittlich alle zwei bis drei Jahre etwas ganz Normales. In den Horden mancher Affenarten bricht das Chaos alle zwei bis vier Jahre aus. Anlaß dazu ist in beiden Fällen der Machtwechsel auf dem Pascha- Posten von Haremsgesellschaften. Dabei töten dann die neuen Herrscher alle Kinder des alten, den sie vertrieben haben.

Vielen Tierfreunden mögen solche schlimmen Geschichten als etwas Widernatürliches erscheinen. Den Verhaltensforschern ging es anfangs ebenso. Mord an Artgenossen, so hatte vor genau fünfzehn Jahren der Begründer der Verhaltensforschung, Nobelpreisträger Professor Konrad Lorenz, in seinem Buch "Das sogenannte Böse" gesagt, Mord gebe es nur bei Menschen. Tiere dagegen seien in diesem Sinne nicht "böse". Vor allem, wenn sie mit scharfen Krallen, langen Eckzähnen oder spitzen Schnäbeln gerüstet sind, verfugten sie in aller Regel zugleich auch über eine angeborene Tötungshemmung gegenüber Angehörigen ihrer eigenen Art. Raubtiere töten "mit unschuldigem Gesichtsausdruck" Beutetiere ? natürlich aus Hunger ? , aber niemals, und auch im Grimm nicht, Artgenossen.

Doch schon bald nach dem Erscheinen von Lorenz' Buch kamen Freilandforscher aus Steppen und Wäldern mit der bestürzenden Nachricht heim: Auch Tiere morden ihresgleichen. Nur sehr zögernd wurden diese Beobachtungen ernst genommen. Man versuchte, solches Verhalten als Unreife oder krankhaft und als Einzelfall abzutun.

Aber die Ausnahmen mehrten sich. Des Deliktes "Töten von Artgenossen" sind bisher überführt: Bienen, Ameisen, Löwen, Flußpferde, Bären, Wölfe, Wildhunde, Hyänen, Ratten, Erdhörnchen, Lemminge, Störche, Adler und mehr als fünfzehn verschiedene Affenarten. Die weiterhin "steigende Gewaltkriminalität" der Kreatur veranlaßt die Zoologen zum Umdenken.

Das haben nun der Lorenz-Schüler und Nachfolger am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, Professor Wolfgang Wickler, und seine Assistentin Uta Seibt gründlich besorgt. In ihrem Buch "Das Prinzip Eigennutz" zeichnen sie ein korrigiertes und erweitertes Bild vom Tierverhalten.

Den Schlüssel zum Verständnis der blutrünstigen Tage in Rudeln, Horden und Vogelkolonien hatte vor Jahren schon der englische Biologe William B. Hamilton geliefert. Ein Tier muß nicht nur zum Fortbestand seiner Art beitragen, indem es selber überlebt und möglichst viele Nachkommen hinterläßt, sondern es muß bestrebt sein, seine Erbanlagen, die "Gene", in der Gemeinschaft zu verbreiten. Nicht die Erhaltung der Art, sondern die Verbreitung der eigenen Gene ist die Elle, nach der die Natur ihre Lebewesen mißt. Und gleiches Erbgut, gleiche Gene, hat man auch mit seinen Verwandten gemeinsam. Wer seinen Verwandten hilft, verhilft damit den eigenen Genen zum Überleben.

Nach dieser neuen Formel erscheinen nun auch die Aufopferung und die Brutpflege der Tiere in einem anderen Licht. Wenn der Chef einer Pavian-Horde im Kampf gegen den Leoparden sein eigenes Leben riskiert, dann ist das nur scheinbar uneigennützig. Er rettet sein eigenes Erbgut, das in seinen Kindern steckt. Brutpflege nützt nicht direkt den Eltern, so schreiben Wickler und Seibt, "sondern nur dem Erhaltenbleiben ihres Erbgutes, das in den Nachkommen weiterlebt. Gene, die das Elternindividuum veranlaßt, sein Leben für seine Nachkommen zu opfern, haben Aussicht, in diesen Nachkommen weiter zu bestehen. Andere Gene, die das Elternindividuum veranlassen würden, die Nachkommen zu opfern und die eigene Haut zu retten, gingen wahrscheinlich am Lebensende mit dieser geretteten Haut zugrunde."

Auch im Falle kindermordender Löwen kommt der "Eigennutz der Gene" zum Zuge. Die Rudel bestehen durchschnittlich aus sechs miteinander verwandten Weibchen und zwei Paschas, die meist Brüder sind. Nur zweieinhalb Jahre lang haben Löwenmänner die Kraft, den Harem gegen Rivalen zu verteidigen. Wollten sie .erst abwarten, bis die Kinder ihrer Vorgänger erwachsen sind, also zwei bis drei Jahre, dann hätten sie auf die Eroberung des Harems gleich verzichten können. Beseitigen sie aber alle fremden Kinder, dann werden die Weibchen in kurzer Zeit wieder brünstig, und die neuen Herren können ihre Erbanlagen an die nächste Generation weiterreichen.

Nach der Theorie vom "Durchsetzungswillen" der Gene müßte die Hilfsbereitschaft mit steigendem Verwandtschaftsgrad zunehmen. Sehr schön ist das im Löwenrudel auch zu sehen. Trifft ein Pascha mit einem Löwenkind zusammen, dann ist es entweder sein eigenes Kind oder das seines Bruders. Im Durchschnitt wird er mit dem Kind mehr Erbanlagen gemeinsam haben als der Durchschnitt der Löwinnen, denn sie setzen sich zusammen aus Schwestern, Halbschwestern, Cousinen, Müttern und Großmüttern. Tatsächlich sind nun Löwenmänner entsprechend dem höheren Verwandtschaftsgrad mit den Kindern viel freundlicher und nachsichtiger zu ihnen als die Löwinnen. In Hungerzeiten ist der Pascha viel eher bereit, Kinder an seinem Fleischstück mitfressen zu lassen, als die Weibchen.

Inzwischen gibt es viele eindrucksvolle Beweise dafür, daß der gemeinsame Besitz von Genen über das soziale Verhalten von Tieren entscheidet. "Die Leistungen der Tiere", so schreiben Wickler/Seibt, ?im Erkennen von Verwandtschaftsbeziehungen

haben wir bislang weit unterschätzt.

Eine kuriose Blüte, so scheint es, hat der Eigennutz der Gene bei den wilden Truthühnern getrieben. Die Hennen sind nur dann paarungsbereit, wenn sie mindestens zwei Hähne vor sich sehen, weshalb die Hähne in Gruppen unterwegs sind. Nur der ranghöchste Hahn der Gruppe paart sich mit der Henne. Den anderen ? seinen leiblichen Brüdern ? bleibt der Trost, daß sie alle die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben, also auch ihre Erbanlagen verbreitet werden, wenn sie dem großen Bruder Paarungshilfe leisten, indem sie die Henne in Schach halten.

Wolfgang Wickler/Uta Seibt: Das Prinzip Eigennutz. Ursachen und Konsequenzen sozialen Verhaltens. Verlag Hoff mann und Campe, 36 Mark.