Zu Alexander S. Neill, jener bewundernswerten Autorität, die man als den Begründer der sogenannten antiautoritären Erziehung feiert, kam eines Tages eine Frau mit ihrer Tochter, einer lebhaften Siebenjährigen. "Mr. Neill", sagte sie, "ich habe jede Zeile gelesen, die Sie geschrieben haben. Und noch bevor Daphne zur Welt kam, hatte ich beschlossen, sie genau nach Ihren Prinzipien zu erziehen." Das Prachtstück dieser Erziehung stand währenddessen mit seinen schweren Schuhen auf dem Konzertflügel des Meisters. Von da machte es einen Satz auf das Sofa, bei dem fast die Sprungfedern heraustraten. "Sehen Sie, wie natürlich sie ist", sagt die Mutter, "das Neilische Kind!" ? "Ich fürchte", erinnerte sich dieser später, "ich bin rot geworden."

Wir dürfen rätseln, warum A. S. Neill errötete: War es eine ganz unautoritäre Erbitterung über die Art, in der das ungenierte Ding Gewalt gegen Sachen übte, oder errötete er über den Mangel an Respekt, den das Kind darin auch vor Personen vermissen ließ? War es die beleidigende Gleichsetzung einer Erziehung, die solche Produkte hervorbringt, mit seinen eigenen Grundsätzen und Methoden? Oder war es gar so etwas wie schamhafte Bestürzung über die Folgen, die seine Lehren gezeitigt hatten?

Eins muß man der Frau lassen: Sie trug ihre pädagogischen Prinzipien und deren offenkundige Erfolge mit dem Ausdruck strahlendster Selbstgewißheit vor sich her. Bei den meisten Eltern hat der Siegeszug der antiautoritären Bewegung weitaus mehr Selbstzweifel und Verwirrung hervorgerufen. Eltern, die gestern noch autoritär erzogen, werfen von heute auf morgen ihre Grundsätze, deren Brüchigkeit sie spüren, über den Haufen und versuchen es nun auf die entgegengesetzte Weise.

Die antiautoritäre Bewegung hat sich festgelaufen, so scheint es. Eltern, die es voll guten Gewissens damit versuchten, haben es satt, die Spuren dreckiger Schuhe vom Sofa zu bürsten, Watte gegen Streit und Geschrei in die Ohren zu stopfen, mehrstündige Überzeugungskampagnen um eine halbe Stunde weniger Fernsehen oder mehr Schlaf zu führen.

Was für die milieugeschädigten Kinder von Summerhill von therapeutischem Wert war, erweist sich bei normalen Kindern, die vor Vitalität strotzen, als gefährlicher Leichtsinn: Der Terror von oben wird durch den Terror von unten ersetzt. Das Kind ist ein Wesen, das seine Kräfte erproben und seine Grenzen spüren will. Wer ihm das verweigert, bleibt ihm etwas schuldig. Vor allem aber wird er schuldig an den wachsenden Expansionsgelüsten, die mit seelischem Wildwuchs einhergehen. Der menschliche Drang nach Welteroberung und Krafterprobung ist prinzipiell unbegrenzt, wie die Neugier und der Forschungsdrang des Menschen kein Ende haben, solange im Weltraum noch ein Winkel unbekannt und unbesetzt ist.

Während auf der einen Seite die Natur die Grenzen setzt, muß da, wo der Mensch in Gesellschaft lebt, die Gemeinschaft ihre Werte sichtbar und notfalls in Grenzen willkürlicher Ausbreitung erkennbar machen. Das geschieht in der Erziehung. Es kann weder autoritär noch antiautoritär geschehen. Wer es autoritär versucht, züchtet die Rebellen von morgen, wer es antiautoritär möchte, riskiert die Terroristen schon heute. Unautoritäre, freiheitliche Autorität derer, die sich selbst an das halten, was sie verlangen, ermöglicht den einzig angemessenen, den dritten Weg der Erziehung. Es war übrigens nie anders.

In der nächsten Folge: Sind die eigenen Kinder uns fremd?

"BEERS ELTERNBUCH" ? Ullstein Taschenbuch Verlag, 382 Seiten, DM 9,80.