Das Parteiordnungsverfahren gegen 56 Hamburger Sozialdemokraten in Verbindung mit dem Parteiausschluß des Juso-Vorsitzenden Klaus-Uwe Benneter hat auch bundesweit Aufsehen erregt. Zehn Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete hatten sich in einem Telegramm an Parteichef Willy Brandt für eine Entschärfung des Konflikts eingesetzt. Brandt antwortete darauf am Freitag in einen! längeren Brief; Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Auseinandersetzungen veröffentlicht das Abendblatt beide Texte )m Wortlaut.

Lieber Genosse Brandt,

die erste Testwahl nach der Bundestagswahl 76, nach der Koalitionsvereinbarung mit der FDP und einer schwierigen Phase der Bundespolitik wird die Wahl zur Hamburger Bürgerschaft im Frühjahr 78 sein. Trotz der bekannten Konflikte haben wir die Hoffnung, unsere SPD mit wachsender Geschlossenheit in diesen Wahlkampf hineinzuführen. Eine weitere Eskalation von Parteiordnungsverfahren würde diese Hoffnung zunichte machen. Noch sehen wir die Chance zur Konfliktbeilegung, die einen Flächenbrand verhindert. Diese setzte voraus, daß von Bundesebene konfliktentschärfend auf die Landesorganisation Hamburg eingewirkt wird. In dieser Stunde weittragender Entscheidungen für die Funktioristüchtigkeit der Partei richten wir an Dich den Appell, Deinen persönlichen Einfluß mit vollem Gewicht einzubringen und den Konflikt zu entschärfen. Wir hoffen auf Deine Solidarität. Zehn Mitglieder der SPD-Bürgerschaftsfraktion Hamburg."

Das Telegramm war unterzeichnet von dem 28jährigen wissenschaftlichen Angestellten Jan Ehlers, dem 33jährigen wissenschaftlichen Angestellten Ortwin Runde, dem 39jährigen wissenschaftlichen Angestellten Bodo Schuemann, dem 36jährigen wissenschaftlichen Assistenten Dr., Wulf Damkowski, dem 31jährigen Referendar Hans- Jürgen Grambow, der 44jährigen Angestellten Helga von Hoffmann, der 33jährigen Studentin Frauke Martin, dem 36jährigen Justitiar Harro Frank, dem 41 jährigen Dozenten Bodo Fischer und dem 38jährigen Büroleiter Lothar Reinhard.

Die Antwort

Bonn, 8. Juli Liebe Genossen!

Wer dafür kämpft, daß offene Diskussion, Meinungsvielfalt und Toleranz ? das Miteinander auch in der Kontroverse ? das Leben unserer Partei prägen und sichern. der muß bereit sein, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Die Entscheidung des Hamburger Landesvorstandes ist eindeutig, und sie ist demokratisch. Auch und gerade als Vorsitzender unserer Partei habe ich deshalb dazu zu stehen.

Im übrigen soll man nicht in ein schwebendes Verfahren * eingreifen, auch nicht der Parteivorsitzende. Ich habe keinen Zweifel, daß jedeln einzelnen der 56 Mitglieder vor der Schiedskommission ein faires Verfahren zuteil werden wird und damit auch politische Gerechtigkeit in* der Anwendung im Rahmen der Ordnung, die sich unsere Partei gegeben hat

Den Betroffenen kann ich nur sagen, daß ihr Verhalten in den kommenden Wochen ein wichtiger Hinweis darauf sein wird, ob sie in der SPD ihre politische Heimat sehen.

Der Beschluß des Hamburger Vorstandes war, wie die Dinge lagen, meines Erachtens nicht anders möglich, nachdem eine Distanzierung zu der Erklärung der 62 nicht erkennbar war. Toleranz und innerparteiliche: Demokratie gebieten, daß demokratisch gefaßte Beschlüsse der Partei nicht ins Belieben 'einzelner gestellt werden. Es wäre ein Mißbrauch der Freiheit und das Ende der Partei, wenn wir miteinander zuließen, daß einige demokratische Entscheidungen nur akzeptieren, wenn sie in ihr Konzept passen und anschließend nach Solidarität rufen. Solidarität darf nicht zu einem Karren umfunktioniert werden,* der der Beförderung von Minderheits- oder gar Außenseiterpositionen dient.

Niemand braucht Angst davor zu haben, daß nicht die volle Breite dier .Diskussion in unserer Partei gewahrt bleibe. Die Vielfalt der vertretenen und vertretbaren Meinungen ist groß und wird es bleiben. Die Freiheit des Geistes ist auch für uns nicht immer bequem oder einfach. Wir werden sie weiterhin wahren, erleben, fördern, bewachen und notfalls verteidigen. Aber 'wir sind uns sicher auch einig, daß die Partei mehr als ein Diskussionszirkel ist. Sie muß zuletzt immer wieder zum wirkungsvollen, programmbezogenen, geschlossenen Handeln finden. Beides gehört zusammen, und in diesem Sinne haben wir alle auch künftig unsere Pflicht zu tun. Mit freundlichen Grüßen

Willy Brandt

-$PD am zerstrittensten"

Eigener Bericht - dpa

Bielefeld, 9. Juli

Als die "in sich zerstrittenste Partei" beurteilen die Bundesbürger zur Zeit die SPD. In einer Emnid-Befragung von 1003 Deutschen in West-Berlin und im Bundesgebiet kam die SPD auf einen Index von 7,3. Die Index-Skala reicht von null bis zehn. Die CDU kann auf 5,9 und die FDP auf 4,3 Punkte.

Bei einer gleichen Umfrage 1975 hatte die CDU/CSU mit 6,4 die höchste Punktzahl, währmd die SPD auf 5,9 und die FDP auf 3,8 kamen. Emnid fügte der Mitteilung die Bemerkung hinzu, vermutlich habe der Parteiausschluß des Juso- Vorsitzenden Benneter zu der Auffassung der Bundesbürger beigetragen.