Die Geschichte der Justiz IM auch die Geschichte ihrer Irrtümer! Wer das behauptet 0*rat leicht in den Verdacht, er. welle das Vertrauen In die Klugheit Justltias untergraben. Doch die Falle, die an dieser Stelle erzählt werden, stellen nur einen Meinen Ausschnitt aus den Fehlurteilen der letzten Zelt dar. Sie beweisen, wie schwer es für die Männer und Frauen In der schwarzen Richterrebe ist, die Wahrheit xu finden.

Ich beantrage gegen den 39JShrigen Zollassistenten Werner Burkert die Todesstrafe wegen Mordes, verübt an seinem Kollegen August Bolz am 12. September 1946."

Nachdem er diesen schwerwiegenden Satz ausgesprochen hatte, schlug de/ Staatsanwalt den schwarzen Talar mit den Samtaufschlägen zurück und setzte sich auf seinen erhöhten Platz neben den Richtertisch.

Es ist totenstill an jenem Oktobertag des Jahres 1947 in dem Behelfssaal, in dem die Strafkammer des Weidener Landgerichts tagt.

Der Mann auf der Anklagebank schreit nicht auf, als er diesen ungeheuerlichen Antrag hört.

Seit einem Jahr hat er Tag für Tag laut und leise, weinend und tobend, seine Unschuld beteuert Jetzt aber, in dem Augenblick, da der Staatsanwalt seinen Kopf fordert, überfällt ihn die Starre. Es ist wieder da, das lähmende Entsetzen, das ihn schon -n vorigen September stumm, ohne Pro. _öt mit den Kriminalbeamten gehen ließ, die ihn als mutmaßlichen Mörder seines Amtskameraden verhafteten.

Doch die Strafkammer bewahrt die Justiz vor einem Irrtum, der nie wiedergutzumachen gewesen wäre, und den Staatsanwalt vor schlaflosen Nächten.

Sie verurteilt noch am selben Abend, nach einer schnellen zweitägigen Verhandlung, in der sie alle Anträge der Verteidigung: kurzerhand ablehnte^den Grenzbeamten Burkert wegen Totschlags zu zwölf Jahren Zuchthaus. Sechs Jahre sitzt Hans Burkert in Straubing in seiner Zuchthauszelle und zermartert sich den Kopf, wer wohl seinen Kameraden in der Zollstation erschossen Jiaben könnte.

Burkerts Verteidiger, Rechtsanwalt Hirsch, kämpft inzwischen unermüdlich um die Aufhebung des Fehlurteils, das eine Strafkammer fällte, weil es damals noch gar kein Schwurgericht in Weiden gab. Aber er hat es sehr schwer, seine entlastenden Beweise vorzubringen. Natürlich versucht er das Urteil der Weidener Strafkammer anzufechten und ein Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen. Doch das ist erfahrungsgemäß in der Bundesrepublik geradezu ein juristisches Meisterstück.

Nur wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden, sehen sich die Gerichte gezwungen, ihre eigene Meinung zu revidieren. Der Grundsatz "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) scheint nach einem rechtskräftigen Urteil keine Geltung mehr zu haben.

So dauert es über sechs Jahre bis der furchtbare Irrtum vom Oktober 1947 richtiggestellt werden kann.

*

Es geht um ein Geschehen, das unter dem Stichwort "Tragödie von Mammersreuth" die Phantasie der Schriftsteller, Reporter und Filmautoren immer wieder angeregt hat und das, nüchtern gesehen, folgendermaßen ablief:

Sechzehn Monate nach Kriegsende in der Reichsmarkzeit ist der Hundertseelen-Ort Mammersreuth, hart an der tschechischen Grenze in -der Nähe von Egern, als Schmugglernest bekannt. Durch den unwegsamen Wald gehen die Schmuggler auf ihren Trampelpfaden. Es werden dunkle Geschäfte gemacht. Auch die Zollbeamten drücken zuweilen ein Auge zu.

Nur einer der Zöllner, Hans Burkert, der aus Breslau kam, jung verheiratet ist und heilfroh darüber, eine neue Stellung gefunden zu haben, versieht seinen Dienst peinlich genau. Er weiß, daß er nicht beliebt ist. Man nennt ihn "den Preußen". Er hat manche Differenzen mit seinem Kollegen Bolz, der bei der "Pompadour der Zöllner", der Förstersfrau Maria Plechinger, ein und aus geht.

"Ordnung muß sein, gerade an der Grenze, auch in dieser kranken Zeit." Das ist der Wahlspruch von Burkert Darum will er gegen seinen Kollegen Bolz vorgehen. Aber er soll nicht dazu kommen. *

In der Nacht vom 11. zum 12. September wird August Bolz erschossen. Am Morgen erscheint Hans Burkert ? wie er sagt ahnungslos ? in der Zollstation, um seinen Kameraden abzulösen. Als er die TUr zur Stube öffnet, schreit er: "Der Gustl Ist tot!"

Burkert alarmiert die Polizei und die Mord-Kommission. Stunden später treffen ein: ein Oberwachtmeister aus Waldsassen, ein Staatsanwalt aus Weiden und ein Kriminalkommissar aus Neustadt. Sie stellen fest, daß Bolz durch zwei Schüsse getötet worden ist Sein Karabiner fehlt. Auf dem Boden liegen Papierschnitzel und Patronen. Sie finden Spuren eines benagelten Stiefels. Am Fenster sind blutige Fingerabdrücke.

Während sie noch den Tatort durchsuchen, ruft ihnen Tischlermeister Köstler, der im ersten Stock des Hauses wohnt, in dem die Zollstube untergebracht ist, einen Satz zu, der eine Lawine ins Rollen bringen wird :

-Burkert Ist der Täter. Wir haben ihn deutlich gesehen, meine" Frau und ich. Der Mond hat sein Gesicht hell beleuchtete

Und plötzlich sind sie alle überzeugt, daß nur "der Preuße" der Mörder sein könne.

Burkert läßt sich widerstandslos verhaften. Erst in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses fängt er an aufzubegehren.

Plötzlich erscheint der Ermordete in einem merkwürdigen Zwielicht. Von angeblichen Spionageaufträgen der Tschechen "wird erzählt, von seinen vielen Besuchen bei der Förstersfrau Plechinger, von Beziehungen zu Schmugglerkreisen! Aber Frau Plechinger will sich an nichts mehr erinnern können. Erst nach Wochen sagt sie überraschend aus, die beiden Zollbeamten Burkert und Bolz seien Rivalen gewesen und hätten ihretwegen Streit gehabt. Damit gibt sie dem Mord das vermeintliche Motiv, das bisher ungeklärt war. Da sie gerade ein. Baby bekommt, kann sie nicht genauer befragt werden

Schließlich fällt der Verdacht auf den vorbestraften Wilderer und Grenzgänger Zuber. Er sieht Burkert ähnlich und gehört auch zu den Stammbesuchern der Frau Plechinger. Er wird vorsorglich ebenfalls festgenommen. &ber die .Ermittlungen gegen ihn werten eingestellt. Sein Namensvetter und Arbeitgeber Zuber liefert ein hieb- und stichfestes Alibi für die Tatnacht.

Als man die blutigen Fingerabdrücke am Fenster später ? viel "ZU spät ? untersuchen läßt, läßt sich nichts Genaues mehr feststellen. Eins kann man nur klären:- die Spur von dem seltsam benagelten £tiefel stammt bestimmt nicht von Burkert.

Es bleibt vieles rätselhaft. Doch im ersten Prozeß gegen Burkert beeidet das Ehepaar Köstler seine Aussage, auf die sich das Urteil im wesentlichen stützt:

"Gegen vier Uhr morgens sahen wir von unserem Schlafzimmerfenster im ersten Stock, daß sich die Flügel des linken Fensters unter uns zu ebener Erde nach außen hin öffneten. Ein Mann sprang aus dem Fenster ins Freie. Wir erkannten sofort Burkert, der im hellen Mondlicht am Zaun entlangging. Als er bei der nahe am Hauseck befindlichen Zauntür vorbeilief, sahen wir die linke Seite seines von vorn vom Mond beschienenen Gesichts. Wir erkannten ihn auch an seiner großen Gestalt und seinem etwas schwankenden Gang. Er trug die zu seiner Dienstkleidung gehörende lange, dunkle Pelerine. Wir haben sogar seine dunkelgrüne Dienstmütze mit dem an den Seiten auffallend nach abwärts gebogenen Schild genau erkannt."

Der Verteidiger beantragt einen nächtlichen Lokaltermin, weil er behauptet, das Ehepaar Köstler habe von seinem Fenster aus den Täter gar nicht genau erkennen können. Er beantragt weiter, eine augenärztliche Untersuchung Köstlers. "Wenn der Zeuge sagt, er sieht gut dann sieht er gut", meint der Vorsitzende. Die Kammer fällt ihr Urteil.

*

Burkert ist ein Mustergefangener, so wie er ein musterhafter Zollbeamter war. Nur in einem Punkt zeigt er etwas, was man ihm als "Uneinsichtigkeit" ankreidet: er beteuert immer wieder seine Unschuld. Er erklärt sogar, er wolle unter Hypnose aussagen. Aber das ist seit dem 1. November 1950 nicht mehr erlaubt. Er bittet um eine Vernehmung mit dem Lügendetektor. Auch das wird abgelehnt.

Frau Burkert und ihr kleiner Sohn Detlef, der seinen Vater nur von wenigen kurzen Besuchen im Zuchthaus kennt, müssen sich mit einer Monatsrente von 70 Mark durchschlagen.

Nach Ablehnung der Revision und des Antrags auf Wiederaufnahme und nach einer Beschwerde beim Oberlandesgericht findet -der Verteidiger noch einen neuen Weg. Er läßt (auf sein Risiko) ein Gutachten der Universitäts- Sternwarte München anfertigen. Darin wird festgestellt:

- Die dem Haus zugewandte Seite des fliehenden Täters konnte vom Mond nicht befeuchtet werden. Der Mond hätte nach der Aussage des Ehepaars zur Tatzeit In der Wegrichtung des Täters scheinen müssen. In Wahrheit stand er Jedoch um S Uhr 58°, 6 Minuten von der Südrichtung nach Westen und um 4 Uhr 52°, 19 Minuten von der SOdrlchtung nach Westen entfernt Also schien der Mond nicht von vom, also können Köstlers das Gesicht und die Mutze unmöglich erkannt haben.

Doch der findige Verteidiger bemüht auch noch den Deutschen Wetterdienst Köstlers hatten behauptet sie hätten Gestalt, Gang und Kleidung des Täters erkannt. Das wäre ? selbst wenn der Mond hinter dem Hausdach verborgen geblieben wäre, in einer wolkenlosen Nacht möglich gewesen. Nun stellt der Wetterdienst fest:

- In der TatnachJ war der Himmel mit Wolken behängt.

Ohne Mond und mit Wolken wird die" Aussage der Zeugen Kostler, die sich hi Widerspruches verwickeln ?und beide schlecht sehen können, vöfrig* unglaubwürdig.

Jetzt wird das Wiederaufnahmeverfahren zugelassen.

Es ist aber nicht so Einfach, den Fall nach sechs Jahren zu klären. Ein großer Teil der Prozeßunterlagen ist spurlos verschwunden. Köstlers haben ihr Haus inzwischen umgebaut und zwei Fenster vermauern lassen. Dennoch stellt der Sachverständige, der Berliner Professor Dr. Müller-Hess beim Lokaltermin am Tatort fest, daß die Eheleute mit ihrer Behauptung, sie hätten ohne Mondlicht in vier Meter Entfernung Burkert in der Nacht wiedererkannt "der Macht"der Suggestion verfallen" seien.

Burkert wird nach achttägiger gründlicher Verhandlung ha November 1952 freigesprochen. Allerdings gibt es nicht den allseits erwarteten Freisprach "wegen erwiesener Unschuld", bei dem ihm eine Entschädigung von 50000 bis 70 000 DM sicher gewesen wäre. ' Er Beim Lokaltermin in Mammersreuth: Burkert muß aus dem Fenster springen. Vom ersten Stock aus beobachtet ihn Hauptbelastungszeuge Köstler (links). Konnte er Burkert nachts im Mondschein erkennen? Das Ist die Frage des Wiederaufnahmeverfahrens.

wird für "nicht schuldig mangels Beweises" erklärt. So braucht man Ihm nur die Anwaltskosten, eine Zahnbehandlung und Reisespesen, alles zusammen runde 2000 DM, zu erstatten. Außerdem bekommt er eine Gehaltsnachzahlung für die fünf Jahre, die er hinter Zuchthausmauern verbrachte. Doch Burkert erhält keinen Pfennig Schmerzensgeld für die zermürbenden Jahre in der Zelle. In dem Urteil steht auch kein Wort über eine moralische Wiedergutmachung.

Damit ist der Fall Hans Burkert rechtmäßig abgeschlossen. Man muß einen Freispruch so hinnehmen, wie ihn das Gericht ausspricht. Revision ist nicht möglich.

Burkert ist heute wieder als Zollbeamter tätig. Er hat sich allerdings versetzen lassen.

Seine Frau Gertrud, die nach dem ersten Prozeß gegen ihren Mann wegen "Begünstigung" verhaftet worden war, zweifelte keine Minute an seiner Unschuld. Sie sagte im Wiederaufnahmeverfahren einen Satz, der nachdenklch stimmt. Auf die Frage des Vorsitzen?

den, warum sie nicht -lauter gegen das Unrecht protestiert 'habe, antwortete sie:

.Wir waren naiv genug, um zu glauben, daB Recht Recht ist und Recht bleibt Und daB sich über kurz oder lang die Unschuld meines Mannes herausstellen würde. Und Über kons oder lue aind dann sechs schreckliche Jahre verfangen.''