Eigener Bericht

Hamburg, 19. Juli

Noch nie in der langen Geschichte des Turnens hat es eine solche Anballung von Spitzenkönnern gegeben, wie wir sie bei den Olympischen Spielen in Melbourne erleben werden. Überzeugend und großartii turnten die Russen vor vier Jahren in Helsinki. Sie trugen Medaillen in Hülle und Fülle davon. Diesmal sieht die Situation anders aus. Der Sowjetunion erwuchs in Japan ein starker Gegner. Mit der Filmkamera studierten die Japaner noch 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin die Technik der Turner an den Geräten. Erst nach dem Weltkrieg ernten sie nun die Frucht ihres Ehrgeizes und ihres Fleißes.

Auch andere Nationen haben das gewohnte turnerische Bild verändert. Von den osteuropäischen Völkern zählen die Ungarn, die Tschechen und Bulgaren wieder zur Weltklasse. Unter den alten Turnnationen rechnen sich die Schweiz, Finnland und Deutschland eine Chance auf die Bronzemedaille im Mannschaf tskarapf aus. Selbst in den USA und China hat sich das Geräteturnen an der Spitze entwickelt. Wer weiß, ob nicht eines Tages auch die Chinesen aus der Masse ihrer Menschen mit Olympiariegen aufwarten werden.

Fernöstliche Sphinx

15 000 Zuschauer kamen in Tokio zusammen, als die Japaner ihre Vorentscheidungen für Melbourne durchführten. 30 Turner traten zum Olympischen Zwölfkampf an, der aus sechs Pflicht- und sechs Kürübungen besteht (Disziplinen: Reck, Barren, Pauschenpferd, Ringe, Bodenturnen und Sprung über das lange Pferd). Der Wettkampf war spannend bis zum letzten Augenblick.

Dr. O t a , der In Köln studiert, sagte mir: "Die Pflichtübungen sind leicht und Jeder von uns turnt sie mit fast spielender Sicherheit." Welch ein Urteil, welche Wandlung In wenigen Jahren! Die Japaner haben nicht nur sechs Turner für ihre Olympia- Riege, nein, der Fünfzehnte turnte in Tokio noch 110,50 Punkte. Selbst wenn die Wertungen etwas geschmeichelt sein sollten, wir wissen heute, daß allem Japan Imstande ist, neben der Sowjetunion nach der Goldmedaille zu greifen.

Sind die Russen Roboter?

Man hat die Russen Roboter im Turnen genannt. Das iS"t völlig falsch gesehen. Turnen ist obligatorische Leihesübung In der Sowjetunion. Selbst die Fußballmannschaften holen sich Kondition (Kraft und Ausdauer) an den Geräten. Wo eine solche Breitenarbeit geleistet wird, vor allem auch in den Schulen, da bleibt die Entwicklung der Spitze nicht aus.

Die Sowjetunion verfügt über Dutzende erstklassiger Meisterturner. Die Forderung von Pflichtübungen ? das sind vorgeschriebene Schwierigkeiten an den Geräten, die jeder turnen muß ? liegt die Mentalität der Russen. Sie üben so lange, bis die "Pflicht" traumlos sicher sitzt. Sie turnen so, wie ehemals der Hamburger Walter Steffens für die Olympischen Spiele 1936 arbeitete. Er holte sich nachts das Pauschenpferd und turnte im Dunkeln. Aber die Russen werden in Melbourne kämpfen müssen. Ihr Gegner heißt Japan.

Amerikanische Individuallsten Ursprünglich waren es in den USA die deutschen, Schweizer und tschechischen Turnvereine, die das Turnen pflegten. Die Amerikaner turnen großartig. Sie sind Individualisten und Meister in der Kür, dem selbstgewählten Programm in den verschiedenen Disziplinen. Was ihnen bisher nicht lag, waren die Pflichtübungen. Aber auch das ist anders geworden, seitdem Jack Beckner bei den deutschen Zwillingsbrüdern Wied in Stuttgart in die Schute ging. Mit pedantischer Strenge führten die Amerikaner ihr Olympia- Programm durch, dessen Ergebnis noch unter dem Internationalen Standard liegt. Doch bei der Jugend der Aktiven ist es nur eine Frage der Zeit, daß auch die Amerikaner stärker in Erscheinung treten.

Mit Schweizer Gründlichkeit

Unsere Schweizer Freunde arbeiten mit der ihnen eigenen Gründlichkeit. Sie ha- Albert Asarjan (Sowjetunion) ist der weitbeste Turner an den Ringen. Unser Bild zeigt ihn beim Kreuzhang. Ob der Japaner Tukawaki bis Melbourne wohl schon so weit ist, um den Russen zu ger

fährden?

ben viele gute Kräfte und ringen hart um die Sechserauswahl für Melbourne. Zur Zeit liegt der Luzerner Schulmeister Jack G ü n t h a r d , den Hamburgern von den Sportpressefesten gut bekannt, an der Spitze. Weltmeister S t a 1 d e r , ebenfalls Luzern, hat Mühe, den Anschluß zu halten. Neue Namen sind aufgetaucht und die letzten Würfel für Melbourne noch nicht gefallen.

In Finnland rührt die Jugend Das finnische Turnen leidet unter der Trennung in bürgerliche und Arbeiterturner. Dieser parteipolitische Fluch hemmt die Olympiavorbereitung. Alle Spitzenturner sind junge Leute, die Finnland in reicher Auswahl besitzt. Die meisten verschwinden Jedoch wieder, weil sie den ständigen turnerischen Streit nicht lieben. Gelingt es den Finnen, ihre begabten Leute für Melbourne zusammenzufassen, so sind sie nach Japan und Rußland eine große Gefahr für jede Mannschaft.

Unsere östlichen Nachbarn

Wer hätte gedacht, daß auch Bulgarien als Turnnation einmal Bedeutung gewinnen würde? Heute sind die Turner aus Sofia mit dabei, und sie machen keine schlechte Figur. Ungarn, das früher zu den besten Nationen zählte, holte wieder auf und die Tschechen, schon in Helsinki 1952 unser Gegner, machen sich Hoffnungen auf den dritten Platz. Sie dürfen es, denn sie schlugen die Schweiz im Länderkampf hoch mit 67:, 45 zu 607,10 Punkten, wobei Danis vor Günthard endete. Das war eine Riesenüberraschung, auch wenn die Schweizer nicht mit allerstärkster Besetzung in Prag gewesen sind.

Die deutschen Olympia-Aussichten

Bestenfalls können wir in Melbourne im Mannschaftsturnen . eine Bronze-Medaille erringen. Um Gold und Silber liegt die Entscheidung zwischen der Sowjetunion und Japan. Um den dritten Platz kämpfen mit Deutschland, der Schweiz, Finnland, Tschechoslowakei und. vielleicht auch Bulgarien und Ungarn gleich viele Nationen.

Die deutsche Riege stutzt sich auf die alten Olympiaturner von Helsinki, die ihr Kürprogramm völlig umgestellt und den Anforderungen der internationalen Spitzenklasse angepaßt haben. Bantz und Dlckhut sind unsere Asse. Dann bröckelt, es etwas ab. in der deutschen Riege fehlt der Nachwuchs. So wird die deutsche Mannschaft die älteste in Melbourne sein.

Leider mangelt es an echten Vergleichen, Deutschland führt zwar Länderkämpfe durch, doch im Gegensatz zu anderen Nationen in den Kürübungen. Das olympische Turnen aber wird in der "P f 1 i c h t" entschieden. Unsere Turner müssen noch sehr hart arbeiten, um jene schwerelose, spielerische Sicherheit in der "Pflicht" zu bekommen. Der DTB hat nichts unversucht gelassen, um gründlioh zu arbeiten, aber in Deutschland fehlt der breite Strom des Nachwuchses aus den Schulen.

Diesmal vermögen wir in Melbourne vielleicht noch den Anschluß zu halten. Vier Jahre später jedoch muß eine neue Generation dabeisein, wie bei den anderen Nationen, die schon jetzt ihreTEwanzigjihrigen einsetzen. Darfiber sollte man einmal nachdenken, denn unser Export in "Sachen Turnen" von einst kommt heute als bessere Fertigware wieder zu uns zurück. HANS REIP