“Das Dorf Winterhude enthält gegen 500 Morgen Geestland zum Getraidebau und Wiesenwachs. Es wird von 7 vollen Bauern, 25 Häuslingen und 3 Brinksitzern bewohnt. Dazu gehört noch der Mühlenkamp mit 3 Feuerstellen. Die sämtliche Bevölkerung von Winterhude beträgt 238 Seelen.“ (J. L. v. Hess 1811.)

Wenn keiner darauf verfallen wäre, den Grog zu erfinden ? bei der ersten Begegnung mit dem Worte Winterhude hätte ihn der Rumgeist beflügelt. Winterhude ? dem Quiddje im sonnigen Süden scheint dieser Ort eher ein Nordpol ? denn ein Hamburg- Teil zu sein. Es fröstelt ihn. Dann verschlägt es solch einen Quiddje nordwärts. Genau nach Winterhude. Die "Geborenen" blikken ihm zuerst etwas plietsch über die Schulter. Na ja, wir Winterhuder. Kunststück auch, mit 700 Jahren Histoorje. Ist ja etwas Schönes, so viel Vergangenheit. Aber das Winterhuder Herschen Akklimatisieso tiefgefroren. Dem Quiddje wird's bald warm unter der Weste. Auch ohne Grog. Und als Höhepunkt seiner seelischen Aklimatisierungwürde ereinem ehrenwerten Bürgerverein vorschlagen, aus Winterhude ein Sommerhude zu machen. Aber so kann eben nur ein Quiddje sprechen. Ischa respektlos!

So kann nur einer sprechen, der auf der Schreibmaschine pine Liebeserklä-

rung an Winterhude klappert ? und noch nicht "da" war, als hier die Waben großstädtischer Häuser fehlten; als hier ringsum, wo nun die Hochbahn Weltmetropolen-Töne von sich gibt, die Kinder auf den grünen Wiesen Fußball spielten. Aus den Kindern sind heute ehrenwerte Männer geworden. Deren Kinder kannten schon nur noch den großstädtischen Stein als Spielfläche. Ach, für sie ist dieses gemütlich altfränkische Winterhude der Jahrhundertwende nur noch wie eine Geschichte aus dem Märchenbuch. Und die Zeit davor, als noch die "Vollbauern" auf Winterhudes Fluren ihre Höfe hatten. Als sich gewaltige Rietgrasdächer über den Fachwerkbauten erhoben, als die Kühe noch grasten, wo nun das Karussell der Autos und der Bahnen und der ewig gejagten Menschen um den Winterhuder Marktplatz geht.

Von Ochsenzoll, von Langenhorn und Alsterdorf rumpelten die Wagen der Bauern aus dem "Dänischen" heran. Auf dem Winterhuder Marktplatz stand die "Akzise". Der gestrenge Zoll an Harnburgs Stadtgrenze. Beim Kaufmann in Winterhude machten die Rast. Und hinter der Tonbank gab's auch einen lütten Korn. Wenn die Bauern am Abend zurückkamen vom Einkauf in Hamburg, dann genehmigten sie sich noch einen "Kleinen" ? und versteckten den Kaffee unter den Röcken. "Drüben" bei ihnen in Alsterdorf war er viel zu teuer. Nicht

einmal der Kaffeeschmuggel ist eine Erfindung der Neuzeit!

Dann kamen die Bleicher. Sie waren die ungekrönten Könige von Winterhude ? und ihre "weiße Spur" zieht sich durch die Jahrzehnte. Wehe dem Kaufmann, der es mit einem Bleicher verdarb ? er konnte gleich seinen Laden schlie- ßen. Die Bauern mußten den Rückzug antreten. Die kleinen Gewerbetreibenden rückten vor. Und als der Goldschmied Adolph Sierich diesen Stadtteil für Hamburg als Bau-Pionier eroberte ? da begann dieses Wachsen und Blühen, das Winterhude auf den Kopf stellte.

Zum Jubiläum hat der Volksschullehrer Armin Clasen die Schleusen seines reichen Wissens um Winterhudes Vergangenheit geöffnet. Und wie es einem siebenhundertjährigen Jubiläumskinde zukommt, hat er auch die markantesten Punkte dieses langen, langen Weges in einer Zeittafel angemerkt. Sie ist nicht minder spannend, als des ganzen Hamburg Chronik. Greifen wir einige Daten heraus, die in keinem Geschichtsbuch stehen:

29. 8. 1323: Graf Johann beurkundet, daß die Knappen Marquard und Johannes Stake ihr Dorf Winterhude mit allen Rechten an den Hamburger Bürger Johann van dem Berge verpfändet haben.

1350: Zerstörung Winterhudes durch die Ritter Scharpenberg in einer Fehde der Ritter gegen die Stadt Hamburg.

1". 8. 1357: Die Witwe des Daniel van dem Berge verkauft Winterhude dem Hamburger Bürger Heino mit dem Bogen,

4. 2. 1365: Die Witwe des Heino mit dem Bogen verkauft Winterhude an das Kloster Harvestehude.

1712: Die dänische Armee sperrt Hamburg wegen der Pest ab. Ein Stab besetzt Winterhude.

1714: Der erste der fünf Brinksitzer, der Alsterfischer Sievert Bleckwedel, siedelt sich in Winterhude an.

1801: Besetzung Winterhudes durch die dänische Armee im englisch-dänischen Krieg.

1813: Die Franzosen, die Eppendorf besetzt haben, drohen, Winterhude abzubrennen.

1841: Bau der ersten Fahrbrücke über die Alster nach Eppendorf.

1858: Julius Gertig kauft das Gehöft Mühlenkamp und schafft eine Vergnügungsstätte.

1862: Die Industrie amMiihlenkamp entsteht. 1865: Adolph Sierich kauft sechs Siebentel an der Nachleide von sechs Hufnern und beginnt mit dem Bau eines großzügigen Straßenund Kanalnetzes zur Schaffung des Winterhuder Villenviertels.

1865: Eröffnung des Winterhuder Fährhauses.

1869: Das erste Winterhuder Etagenhaus. 1880: Pferdestraßenbahn zwischen Winterhude und der Stadt.

1894: Winterhude wird Stadtteil. 1908/11: Bau der Hochbahn. 1910/14: Anlage des Stadtparks.

"Die sämtliche Bevölkerung von Winterhude beträgt 238 Seelen . . .", so stehts in den Chroniken von 1811. Und heute, Die "sämtliche" Bevölkerung beträgt 237 000! Nein, es sind nicht mehr alles "geborene" Winterhuder. Mit dem Dorf ist es lange vorbei. Wie ein Schwamm hat Winterhude nach der Katastrophe die Menschen aus dem ganzen Hamburg aufgesogen. Aber inmitten dieser "Neulinge", die sich erst das Anrecht erwerben wollen, Winterhuder zu werden, sind Hunderte von Familien, die hier in diesem Stadtteil ihre Heimat haben. Man spricht immer von der Entpersönlichung einer Großstadt. Die Steinmauern haben diese engen Bindungen des Menschen zur Zelle seines engeren Lebenbezirks nicht verdrängen können. Es braucht nicht immer die Romantik einer verschnörkelten süddeutschen Gasse zu sein, um etwas zu begreifen vom Wachsen einer Stadt, von ihren Wurzeln. Man braucht nur einmal nach Feierabend die Ulmenstraße bis zum Maurermeister Reuter entlangzugehen und die Menschen zu beobachten, die hinter den blanken Fensterscheiben ihrer noch nicht vom Höhendrang versessenen Häuser leben. Oder diese Fachwerkhäuser an der Ohlsdorfer Straße mit den streng geschnittenen Pappeln davor. Hier ist die Brücke über die Zeiten hinweg. Die "Quiddjes" verlieben sich schnell in Winterhude ? weil sein Pulsschlag auch heute noch etwas von der Ruhe grüner Weiden und dörflichen Lebens inmitten der Großstadt hat. Wenigstens kann man davon träumen.

Eberhard von Wiese