Eigener Berlcbt

seh. Karlsruhe, 2. August

Halb im Gebüsch versteckt, lehnt sich tn der international berühmten Prachtstraße Baden-Badens, der Lichtentaler Allee, ein Soldat der französischen Gendarmerie an den Stamm eines uralten Baumes. Unentwegt beobachtet er elfte de* schönsten Villen der Kurstadt, das Haus "Sorrento", an dessen elfenbeinfarbiger Fassade eine große rote Fahne mit den goldenen Bmblenen der Sowjetunion herunterhängt. Ein Motorrad steht neben dem Posten, dessen blaugraue Uniform im Schatten der weitausladenden Zweige fast verschwindet.

Aus der Ausfahrt der Villa schiebt sich eine auf Hochglanz polierte, schwarze BMW-Limousine. Am Steuer sitzt ein russischer Soldat. Er trägt nicht die ln der Roten Armee übliche Hemdenbluse, sondern einen vom besten Schneider auf Taille gearbeiteten Rode mit funkelnden Knöpfen und roten Schulterklappen. In den Polstern der Limousine lehnt sich jemand so weit zurück, daß er nicht zu erkennen ist.

Der schwarze Wagen lenkt ? in die Lichtentaler Allee ein. Der französische Posten stülpt sich den ledernen Sturzhelm auf, tritt auf den Starter seiher Maschine und folgt mit kurzem Abstand den Russen. Manchmal dauert es nur zehn Minuten, eih anderesmal über eine Stunde, dann kommen beide Fahrzeuge zurück. Der Sowjetsoldat steuert In den Hof der Villa. Der Motorradfahrer hält wieder unter seinem Baum.

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Diese Szene, sie könnte aus einem schlechten Kriminalfilm stammen, spielt sich seit einigen Wochen mit kleinen Variationen zu Tag- und Nachtzeiten vor dem Haus der "Mission Sovietique" ih der französischen Besatzungsmetropole mehrmals ab. Warum der französische Gendarmerlesoldat unter den Baum gestellt wurde, weshalb er der russischen Limousine bei Jeder Ausfahrt folgt ? darüber machen sich die Baden- Badener ihre eigenen Gedanken. Eine Mauer des Schweigens ist um die Villa "Sorrento" gezogen. Früher traf man die Mitglieder der russischen Mission öfter als heute bei den gesellschaftlichen Veranstaltungen der Alliierten in Baden- Baden. In den ersten Jahren nach dem Kriege sah es sogar so aus, als befleißige sich die französische Besatzungsmacht einer besonderen Gastfreundschaft den Russen gegenüber. So erhielten sie zum Beispiel unter allen ausländischen Missionen das schönste Haus zugewiesen, eben die Villa "Sorrento", die früher einer italienischen Familie gehörte. Ein russischer Offizier soll in jener Zeit zum ausgesprochenen Liebling der in Baden- Baden ansässigen alliierten Damenwelt erklärt worden sein.

Mit den steigenden Spannungen zwischen Ost und West hat sich, wie es scheint, das Verhältnis zwischen den .Russen und den Mitgliedern der anderen alliierten Missionen etwas abgekühlt und auf das. rein Formelle beschränkt. Nehmen die Russen an einer gesellschaftlichen Veranstaltung teil, so verstehen sie es, sich außerordentlich liebenswürdig zu geben. Bei dem kürzlichen Empfang der Alliierten anläßlich eines Besuches des französischen Modeschöpfers Marceil Rochas im Kurhaus Heß sich ein gutgelaunter russischer Offizier Arm in Arm mit den recht hübschen Mannequins photographieren.

Ob die Mitglieder der russischen Mission wohl manchmal daran denken, daß in den Glanzzeiten Baden-Badens, als man die Bäderstadt ein Klein-Paris nannte, hier auch ein Klein-Petersburg bestand? Alles was im zaristischen Rußland Rang und Stand 1 hatte, stieg jedes Jahr für einige Wochen im "Stefanie" ab oder unterhielt eine eigene Villa. Gogol, Turgenjew und Dostojewski promenierten in der Lichtentaler Allee. Sechsspännig . jagten die russischen Großfürsten durch die Straßen Baden-Badens zur Iffezheimer Rennbahn, tranken Sekt mit schönen Frauen oder warfen im Spielsaal ein Vermögen auf den grünen Tisch.