An der A7 liegt einer der größten Umschlagplätze Europas für Kleidung: das ModeCentrum Hamburg - eine Institution im Umbruch.

Schnelsen, das ist Ikea, das ist der Geburtsort von Schauspieler Jürgen Vogel – und es ist auch das ModeCentrum Hamburg. Vielleicht nicht so, wie man sich die typische Modewelt vorstellt: mit glamourösen Schauen, superdürren Models und zickigen Stylisten. Am Modering, direkt an der Autobahnabfahrt A7, werden Geschäfte gemacht: 90 Prozent der Kleidung, die es in Hamburg und Umgebung zu kaufen gibt, werden hier geordert. Jährlicher Umsatz: eine Milliarde Euro. Ästheten dürfte das Hochhaus-Ensemble aus den 70er-Jahren an der Grenze zu Niendorf eher abschrecken. Verkehrstechnisch ist die Lage unschlagbar: Die rund 8000 Händler, die aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Berlin, Brandenburg und Skandinavien anreisen, um Kinder-, Damen- und Herrenmode, Taschen, Schmuck und Schuhe für Boutiquen und Kaufhäuser zu bestellen, schätzen die direkte Anbindung und 1800 Parkplätze. „Mit 72 000 Quadratmetern Präsentationsfläche, 270 festen Mietern, 150 Gastausstellern und 1200 Kollektionen pro Jahr sind wir eins der größten Modezentren Deutschlands, wenn nicht sogar Europas“, sagt Klaus Strecker, 65, Center-Manager und Diplom-Ingenieur für Textiltechnik. Dass das kaum jemand weiß, liegt einerseits an der hanseatischen Zurückhaltung der Verantwortlichen. Und an der eisernen Haltung, dass der Endverbraucher hier eher nichts zu suchen hat. Schließlich ist es Sache der Anbieter, wie viel Marge sie auf die Artikel schlagen.

Und so ist das ModeCentrum Hamburg in seiner 36-jährigen Geschichte zu einer kleinen Stadt im Stadtteil geworden: mit elektrischen Schranken, Pförtnern, die das Areal bewachen, und einer Fashion-ID Card, die den Zugang reglementiert und gleichzeitig Qualitätskontrolle für die Einkäufer garantiert.

Davon war man zu Beginn der 70er-Jahre, als erste Pläne für ein Modezentrum entstanden, noch weit entfernt. Der Hamburger Diplom-Ingenieur Harro Luserke hatte zu der Zeit zwar mit Bauen, aber bis dahin praktisch nichts mit Mode am Hut. Auf einer Silvesterfeier 1971/72 kam er mit dem bekannten Herrenmode-Hersteller Konsul Bäumler ins Gespräch, der von großen Erfolgen bereits bestehender Modezentren in Amsterdam und Sindelfingen berichtete. Schnell war die Idee geboren, ein solches Haus auch für den norddeutschen Fachhandel zu etablieren. Etwa zur gleichen Zeit kam auch der Kaufmann Richard Arff (Trumpf-Blusen) auf ähnliche Gedanken. Gemeinsam mit seinem Chef Walter Girgner schmiedete er Pläne für ein Modezentrum in Hamburg.

Klar, dass ein solches Projekt in der Hansestadt nicht lange Geheimsache bleibt. Und so erfuhren die Herren Luserke und Arff von ihren gleichzeitigen Bemühungen. Anstatt zu konkurrieren, setzten sie sich an einen gemeinsamen Tisch. Mit dem Ergebnis, dass Harro Luserke mit Arffs Unterstützung im Frühjahr 1972 den Bau des Hamburger Projekts fest planen konnte. Im Sommer war auch das erforderliche Grundstück in idealer Lage direkt an der Autobahn gefunden. Am 1. September 1974 zogen die ersten 47 Mieter ins fertiggestellte Haus A. Mit dem Slogan „Mode unter einem Dach“ wurde am 23. September das nagelneue ModeCentrum Hamburg (MCH) mit seinen 18 000 Quadratmetern Fläche feierlich eröffnet. Schnell sprachen sich die Vorteile des zeitsparenden Vororderns, der bequemen Absortierung und des Direktkaufs bei den Sofortlägern in der Branche herum. Und so musste sich das ModeCentrum über die Jahre hinweg stetig vergrößern. Nach den Häusern B und C folgte 1983 eine Messehalle, 1990 kamen ein Orderhaus sowie ein Parkhaus hinzu. Überhaupt brach mit den 90er-Jahren ein regelrechter Bauboom aus: Das exklusive Orderhaus M 11 wurde im modernen Stil erbaut und zog namhafte Kunden wie Escada, Marc Aurel und Basler an. Außerdem wurden das Kindermoden-Order-Center und das Schuh-Order-Center eingerichtet. Tür an Tür werden die hier aktuellen Trends für Mode, Wäsche, Schuhe, Accessoires und Schmuck präsentiert. Betrieb ist das ganze Jahr über, Hochsaison herrscht während der „First Fashion“ Mitte Juli, bei der „Hamburger Orderpremiere“ Anfang August sowie bei den „Pronto Moda“-Tagen im Oktober.

Die Historie des ModeCentrum Hamburg liest sich wie eine Erfolgs-Story am laufenden Band. So berichten Zeitungen aus dem Jahr 1974 vom Wirtschaftsfaktor Textilhandel, der zu Beginn 560 Arbeitsplätze, darunter viele Schnelsener Frauen und deren Kinder, versorgen wird – zum Start des Betriebs wurde ein hauseigener Kindergarten eröffnet. Der damalige Wirtschaftssenator der Hansestadt, Helmuth Kern,sagte in seinem Grußwort zur Eröffnung, er sähe in dieser Institution Möglichkeiten der Kooperation und der Rationalisierung im Bereich der Textilwirtschaft, die nicht nur den Firmen, sondern auch ihren Kunden im norddeutschen Raum zugute kommen würden.

Das Ambiente der Gründerzeit hat sich bis heute gehalten. Und so scheint es auf den ersten Blick fast, als hätten die Macher des ModeCentrum Hamburg (bitte nicht Schnelsen!) ein wenig die Zeichen der Zeit verschlafen. Die Flure sind mit schmucklosen weißen Kacheln versehen. Statt Fashion-Shows gibt es hier noch „Vorführdamen“, die die Frauenmode präsentieren. Das Restaurant verdient seinen Namen Catwalk nicht, denn zu bestaunen gibt es hier kaum etwas. Kaufhaus-Atmosphäre statt Metropolen-Flair. „Die Einkäufer wissen ganz genau, wie die Teile sitzen und welche Modelle sie für ihr Geschäft brauchen“, sagt Strecker. „Wir brauchen keine Modenschauen.“ Obwohl: Schön wäre das natürlich, nicht nur für Schnelsen, sondern für Hamburg als Modestandort insgesamt. Die Akademie JAK habe auch schon angefragt, ob die Abschlussklassen hier ihre Entwürfe zeigen dürfen. Darüber wird man noch in der Vorstandsetage entscheiden.

Auf den zweiten Blick ist es vielmehr so, dass Strecker und seine Mitstreiter, Vorstand Andreas Kristandt, Vermögensverwalter Joachim Luserke und Assistent Martin Keyser, nicht viel Wind machen um ihr Business – etwas, das auch so völlig untypisch ist für diese Branche. „Modernisiert haben wir im Laufe der Zeit immer wieder“, sagt Joachim Luserke, Sohn des Gründers Harro Luserke. 2009 wurden 40 Sky-Lofts gebaut. Demnächst sollen die tristen Häuserfassaden aus den 70er-Jahren mit einer grauen Gaze verkleidet werden. „Wir wissen, dass wir uns verjüngen müssen“, sagt Luserke. „Nur gehen wir nicht mit jeder Änderung oder Neuvermietung an die Presse.“

Ein Seitenhieb auf die Speicherstadt? Seitdem in der HafenCity alte Speicher zu modernen Showrooms ausgebaut werden, zieht es Modefirmen wie Marc O’Polo oder Timberland dorthin, insbesondere aus dem Bereich Sportswear. Jüngster Coup: Die Marke Brax will 2011 in den „Modespeicher“ gehen. Die junge Avantgarde zieht es aus Imagegründen in die Speicherstadt, dafür bleiben die etablierten Labels Schnelsen treu. Die Auslastung der Räume liegt bei 90 Prozent. Was fehlt, sind die Premium-Marken. „Firmen wie Max Mara etwa würden nie nach Schnelsen gehen“, sagt Strecker (und fast hört man ein leises ‚Bitte schön, wenn sie nicht wollen‘ hinterher). Dass das ModeCentrum sich langsam öffnet, hat auch mit dem kleinen Konkurrenten aus der HafenCity zu tun: Der Block Q am St. Annenufer bietet 6000 Quadratmeter Fläche in historischen Gemäuern, insgesamt belegen 125 Modefirmen Showrooms in der Speicherstadt. Zehn Kunden hat Schnelsen an den „Modespeicher“ verloren. Aber es gibt auch den umgekehrten Weg: So sind die Firmen Garcia, Zagora, H.I.S, Greystone und Sportalm aus der Speicherstadt wieder zurückgekommen.

Einzelhändler scheuen den komplizierten Weg in die Innenstadt – möge das Umfeld noch so attraktiv sein. Denn die klassische Vororder im Rhythmus Frühjahr/ Sommer und Herbst/ Winter löst sich immer mehr auf. Die meisten Firmen bieten mittlerweile zwölf kleinere Kollektionen jährlich an. „Viele Einkäufer kommen jeden Monat, um die kurzfristigen Trends mitzunehmen“, sagt Martin Keyser, Assistent im Center-Management. „Und da ist es entscheidend, eine schnelle und unkomplizierte Anfahrt zu haben.“