Warum nach ihren “Wiener Konventionen“ gesundes Essen keine Frage des Geldes sein sollte. Ein Marktbesuch in Ottensen und St. Georg.

Hamburg. Nirgends, heißt es, wird so viel gelogen wie beim Sex und beim Geld. Eine Lüge. Denn wirklich dreist geschummelt werde beim Essen, sagt Spitzenköchin Sarah Wiener. "Im Supermarkt weiß ich nicht, wo ich zuerst hineinweinen soll." Zum Heulen, dass in vielen Lebensmitteln nicht nur das drin sei, was auf der Verpackung draufstehe. Zum Heulen, dass der Verbraucher an glückliche lila Kühe glauben und nicht weiter über die Massentierhaltung nachdenken solle. Nein, unter der sauberen Schale befindet sich längst nicht mehr nur das Gelbe vom Ei, sondern womöglich auch Dioxin. Das Schweinefleisch verseucht, Obst und Gemüse in Form und Farbe schön gespritzt - was darf man noch essen, Frau Wiener?

Gerade jetzt, da einem angesichts des aktuellen Lebensmittelskandals zwischen Gift und Gülle der Appetit vergeht, sind viele Verbraucher verunsichert. Ein Einkaufsbummel mit der "Wienerin", die - nomen est omen - in der österreichischen Hauptstadt geboren wurde und mittlerweile mit ihrem Mann, dem Schauspieler Peter Lohmeyer, in Ottensen lebt, soll Aufklärung bringen. "Fest steht: Es läuft etwas falsch in dieser Welt, wenn der Liter Cola billiger ist als der Liter Bauernmilch, und ein Hähnchen weniger kostet als eine Stunde Parken in der Hamburger Innenstadt", sagt die 48-Jährige, die in Berlin drei Restaurants betreibt.

Am liebsten, sagt die Star-Köchin, kaufe sie in inhabergeführten Geschäften ein. Wie bei Fischdelikatessen Effenberger an der Erzbergerstraße, Chef Herfried ist ein großer Bruder des Vollkorn-Bäckers Effenberger. "Ich versuche, Familienbetriebe zu unterstützen, in denen noch das Handwerk zählt und man erfahren darf, woher die Produkte kommen", sagt Sarah Wiener. Fisch koche sie gern. Überhaupt, sagt sie, müsse man nicht täglich Fleisch essen. "Statt einmal in der Woche, wie unsere Eltern beim Sonntagsbraten, gezielt in gutes Fleisch zu investieren, stopfen wir täglich irgendein Zeug in uns hinein", sagt sie kopfschüttelnd. Wie bei allen Lebensmitteln rät Wiener, die Koch-Autodidaktin, zu Produkten mit dem Bio-Siegel ("schon mal ein Anfang") und regionalen Erzeugnissen. "Was brauchen wir argentinisches Rinderfilet, dieses kulinarische Statussymbol, auf dem Teller? In meinen Berliner Läden serviere ich das nicht, dafür Kalb aus Brandenburg, schmeckt auch sehr gut."

Sollte man also grundsätzlich Fleisch aus dem Supermarkt links im Regal liegen lassen und nur noch beim Metzger seines Vertrauens bestellen? Sarah Wiener streicht sich eine Strähne ihres langen dunkelbraunen Haars aus dem Gesicht. Na ja, sagt sie, noch besser sei, man fahre zum Bio-Bauernhof und kaufe vom Erzeuger direkt. Dass jeder einzelne Verbraucher mit dem Auto durch die Gegend kurve, sei aber natürlich auch nicht besonders ökologisch. "Vielleicht kann einer aus dem Freundeskreis fahren und für alle einkaufen?", schlägt sie fragend vor.

Gut, gehen wir durch die Schiebetür rein in die deutsche Einkaufs-Realität, hinein in einen Discounter. "Auf gar keinen Fall!", wehrt sich Wahl-Hamburgerin und verweigert den Eintritt. In so einen Laden gehe sie nur, wenn nichts anderes geöffnet habe und sie quasi lebensnotwendig eine bestimmte Zutat brauche. "Und dann geniere ich mich so, dass ich die ganze Zeit den Kopf einziehe." Im Discounter solle niemand kaufen, sagt sie. Weil die Kassiererin selbst den Niedrigstlohn kassiere, damit wir Verbraucher noch billiger einkaufen können. Weil nur billigste Zutaten in den Produkten seien, die wiederum hergestellt würden von den globalen Monopolisten. Sarah Wiener, unter anderem mit dem Deutschen Gastronomiepreis ausgezeichnet, kocht merklich über. "Da will ich einfach nicht mitmachen."

Doch was machen die Verbraucher, die sich nicht an diese "Wiener Konventionen" halten können, die sich teures Bio-Essen nicht leisten können? "Gute Ernährung ist nicht allein eine Frage der Knete", sagt Sarah Wiener. "Es ist eine Frage des Bewusstseins. Überbackene Zucchini sind leicht selbst gemacht und nicht sündhaft teuer." Aus ihrem Mund klingt das nicht lebensfremd, sondern alltagserprobt. Hat sie sich doch mit Mitte 20 als alleinerziehende Mutter in Berlin durchschlagen müssen - von Sozialhilfe. Da habe sie anfangs natürlich auch Tütensuppen "gekocht" und die "Ratsch-Klatsch-Konservenküche" probiert. Bis es sie anekelte. "Wenn eine Hühnersuppe, in der angeblich nicht mehr als eine Fingerkuppe Hühnerfett drin ist, extrem nach Huhn schmeckt - tja, dann fragt man sich schon: Was bitte haben die da noch reingemischt?"

Hochwertiges Essen habe in der Fast-Food-Welt an Bedeutung verloren. "Beim Einkauf wollen alle sparen - zugunsten von Handys, Klamotten und anderen Dingen." Die These mag unpopulär sein, dafür ist sie wissenschaftlich belegt. Denn gab der deutsche Durchschnittshaushalt Mitte der 70er-Jahre noch 30 Prozent seines Einkommens für Lebensmittel aus, sind es nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes derzeit gerade noch 14,5 Prozent.

Sie, Tochter des Literaten und Gastronomen Oswald Wiener und der Künstlerin Lore Heuermann, sei rückblickend fast dankbar dafür, "in ärmlichen Verhältnissen" aufgewachsen zu sein. "In meiner Kindheit waren Grundnahrungsmittel noch günstiger als Konserven - uns blieb also gar nichts anderes übrig, als uns gesund zu ernähren", sagt Sarah Wiener, deren "Kulinarische Abenteuer" der TV-Sender Arte ausstrahlt. In dieser Reihe ebenso wie in den von ihr mitorganisierten Kochkursen an derzeit bundesweit 350 Schulen versucht die Fernsehköchin ("Lanz kocht"), Kinder fürs Kochen zu begeistern. "Wir müssen Kinder auf den Geschmack bringen, bevor sich ihre Geschmacksknospen an Fertigpizza gewöhnen", sagt Wiener auf dem Weg zum Bio-Markt an der Langen Reihe.

Bei Gunnar Söth, der einen Bio-Hof bei Husum betreibt, kauft die prominente Kundin privat ein. "Ist der Rosenkohl aus der Region?", fragt sie. Kopfschütteln. "Nee, der kommt aus Frankreich." Folglich greift sie zu Kartoffeln und Rote Bete. Für einen Eintopf. "Was viele von uns übrigens auch verlernt haben, ist das Kochen mit Resten", sagt Sarah Wiener. Wahrscheinlich auch eine Wahrheit. Davon gibt es sonst beim Thema Essen keine große Portion.