Mehr als 1000 Beschäftigte im Hamburger Einzelhandel bestreikten ihre Filialen. Einkaufen war trotzdem möglich. Verhandlungen am 30. Mai.

Hamburg. Ohrenbetäubender Lärm aus Trillerpfeifen kündigte den Protest schon von Weitem an. Mit Plakaten, Fahnen und kämpferischen Parolen zogen gestern Mittag Hunderte Verkäufer durch die Hamburger Innenstadt. Dieselben Menschen, die sonst Pullover falten, Kunden beraten und an der Kasse das Geld entgegennehmen, machten ihrem Ärger über den Stand der Tarifverhandlungen lautstark Luft.

1,5 Prozent mehr Lohn und eine Einmalzahlung von 180 Euro hatten die Arbeitgeber in der ersten Verhandlung geboten. "Das ist für uns ein Minusangebot, da nicht einmal die aktuelle Inflationsrate von mehr als zwei Prozent damit abgedeckt wird", sagte Arno Peukes, Verhandlungsführer bei Ver.di. Die Gewerkschaft fordert eine monatliche Gehaltsteigerung von 120 Euro, was vor allem Geringverdienern im Einzelhandel zugute käme. Zudem sollen Leiharbeiter künftig ebenso bezahlt werden wie die Stammbelegschaft.

Um den Unmut der 60 000 Beschäftigten im Hamburger Einzelhandel zu unterstreichen, hatte die Gewerkschaft gestern unangekündigt zum ganztägigen Streik aufgerufen. Mehr als 1000 Beschäftigte waren dem nach Gewerkschaftsangaben gefolgt und legten 35 Filialen von Rewe, Penny, H&M, Schlecker, Max Bahr, Praktiker, Thalia, Zara, Kaufhof und Karstadt lahm.

Oder zumindest hätten sie das gern getan. Denn in allen Geschäften standen Abteilungsleiter, Führungskräfte und streikunwillige Kollegen bereit, um die Türen zu öffnen. So konnten die Hamburger wie gewohnt ihren Einkäufen nachgehen. "Manche Kollegen können sich den Verdienstausfall wohl nicht leisten", sagte Waltraud Horn, Betriebsrätin bei der Thalia-Buchhandlung an den Großen Bleichen. Auch nebenan bei H&M begutachteten Kunden die Sommerkollektion, bedient von Auszubildenden und befristet Beschäftigten, die um ihre Stellung fürchten. "Wir versuchen aber noch, unsere Kollegen abzufangen, die erst mittags oder nachmittags anfangen", sagte Verkäuferin Anke Hielscher. Gemeinsam mit 18 Kolleginnen stand sie morgens vor dem Geschäft und schwenkte die Ver.di-Fahne, bevor der Trupp zum Demonstrationszug durch die Mönckeberg- und die Spitaler Straße aufbrach.

Dort verwandelte sich der Protest vorübergehend in eine Party mit Sprechchören und Tanzeinlagen - wenn auch mit ernstem Hintergrund. "Wir Mitarbeiter haben auf viel Geld verzichtet, um Karstadt nach der Insolvenz zu stützen", sagte Friedrich Overdiek, Betriebsrat der Filiale an der Mönckebergstraße, wo rund 100 Mitarbeiter im Ausstand waren. "Wenn die Arbeitgeber ihr Angebot nicht verbessern, wäre ein zweiter Streiktag denkbar."

Waltraud Horn, seit 22 Jahren bei Thalia beschäftigt, ist ebenfalls bereit, für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung zu kämpfen. "Wir waren in unserer Filiale mal 45 Kollegen", erzählte sie. "Jetzt sind wir auf gleicher Fläche nur noch halb so viele und müssen demnach die doppelte Arbeit leisten." Auch die familienunfreundlichen Arbeitszeiten müssten honoriert werden. Das sieht auch Carmen Böttcher so, die bei Karstadt nur an Sonnabenden auf 400-Euro-Basis arbeitet. "Ich würde ja gern in Vollzeit oder wenigstens ein paar zusätzliche Tage unter der Woche arbeiten", klagte die Mutter eines 13-jährigen Sohnes. "Das will die Personalabteilung aber offenbar nicht." Der Trend zur Teilzeitbeschäftigung ist auch dem Betriebsrat bei H&M ein Dorn im Auge. Diverse Zehn-Stunden-Kräfte würden nur auf Abruf und in Hochphasen zusätzlich eingesetzt, auch wenn sie gern mehr arbeiten und verdienen würden. "Viele Teilzeitkräfte können von ihrem Lohn nicht leben und müssen sich staatlich unterstützen lassen", bekräftigte Ver.di-Chef Wolfgang Rose. Thorsten Loges, Lagerarbeiter bei H&M, hingegen wäre schon froh, wenn er so viel verdienen würde wie seine fest angestellten Kollegen. "Als Zeitarbeiter bekomme ich etwa ein Drittel weniger", klagte er.

Arbeitgeber halten den Streik für "überraschend und unverständlich"

Bei den Arbeitgebern stieß der ganztägige Ausstand auf Unverständnis. "Wir haben der Gewerkschaft schon in der ersten Verhandlungsrunde ein Angebot unterbreitet, die Gespräche liefen bislang konstruktiv", sagte Wolfgang Linnekogel, Geschäftsführer der Fachverbände des Hamburger Einzelhandels, dem Abendblatt. Daher sei es nicht nachvollziehbar, dass Ver.di schon in einer so frühen Verhandlungsphase zu dem Mittel des Streiks greife. "Das Ausmaß des Arbeitskampfes könnte sogar rechtswidrig sein." Dies müsse allerdings noch juristisch geprüft werden.

Die nächste Verhandlung zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern ist für den 30. Mai angesetzt.