Berlin/Hildesheim. Die mutmaßliche Nummer eins des IS in Deutschland steht ab September vor Gericht. Auch Berlin-Attentäter Amri hatte Kontakt zu ihm.

Er gilt als die Nummer eins der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) in Deutschland. Ein Prediger mit weitreichenden Kontakten in die radikal-islamische Salafisten-Szene. Der Kopf eines Netzwerks, das junge Muslime in geheimen Koranschulen radikalisierte und zum IS nach Syrien und in den Irak geschleust haben soll.

Seine Anhänger nannten ihn ehrfürchtig den Sheikh, den geistigen Führer. In einer inzwischen von den Behörden geschlossenen Moschee des „Deutschsprachigen Islamkreises Hildesheim“ (DIK) predigte der 33-jährige Iraker Ahmad Abdulaziz A., alias Abu Walaa, den Hass auf die „Ungläubigen“.

Der Imam, der in Youtube-Videos mit verborgenem Gesicht auftrat, verfügte über Kontakte zum Geheimdienst und zur Spitze des IS. Im Namen der Terror-Garden fertigte er hierzulande Rechtsgutachten (Fatwa) an. Ohne seine Zustimmung durften seine Getreuen nicht in den Dschihad ziehen – sei es in Deutschland oder in Syrien.

Der Fall Anis Amri -- Chronik eines Terroranschlags

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    Prozess beginnt am 19. September in Celle

    So zumindest steht es in der Anklage der Bundesanwaltschaft und in den Ermittlungsakten, die unsere Redaktion einsehen konnte. Abu Walaa und vier seiner Gefolgsleute müssen sich voraussichtlich ab 19. September vor dem Oberlandesgericht Celle verantworten. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung.

    Sie waren im November 2016 festgenommen worden. Aus seiner Gesinnung machte Abu Walaa vor seiner Festnahme keinen Hehl: Während eines Islamseminars in Kassel huldigte er den Terror-Brigaden und „unserem Kalifen“ Abu Bakr Al-Bagdadi, dem Anführer des IS. Auch soll der Angeklagte selbst mehrfach im Irak auf IS-Seite gekämpft haben.

    Wie kompromisslos der islamistische Agitator vorging, beweist laut Bundesanwaltschaft eine Messenger-Audiobotschaft an seine Anhänger am 16. September 2016. In der Nachricht ruft er dazu auf, einen Spion zu töten. Die Terror-Zelle hatte seinerzeit einen Polizeispitzel in ihren eigenen Reihen enttarnt. Der V-Mann trug den Decknamen „Murat“. Der Mordaufruf: Einer der Zuhörer bot 200 Euro für jeden Stich gegen den Verräter, andere riefen dazu auf, einen Auftragskiller anzuheuern. Das Geld könne unter dem Hashtag „fang den Spion“ eingestrichen werden.

    Geheime Koranschulen in Duisburg und Dortmund

    Nun sitzt der Hassprediger mit vier seiner Getreuen unter Terrorverdacht in Untersuchungshaft. Die Gruppe war hierarchisch gegliedert. Boban S. und Hasan C. radikalisierten laut Anklage junge Muslime in geheimen Koranschulen (Madrasa) in Duisburg und Dortmund. Sobald sie reif für die Ausreise zum IS nach Syrien waren, sollen sie vom Sheikh den letzten Schliff in Hildesheim bekommen haben. Die beiden anderen Angeschuldigten besorgten falsche Pässe, die nötigen Geldmittel und organisierten die Schleusung zu den Kalifatskriegern.

    Der Fall birgt eine enorme Brisanz. Zählte doch der Berliner Attentäter Anis Amri zu den Schülern des Netzwerks um Abu Walaa. Der Tunesier besuchte häufig die extremistischen Koranseminare im Ruhrgebiet. Bei den Ermittlungen gegen das Terrornetzwerk stützten sich die Staatsschützer vor allem auf Erkenntnisse, die ihnen V-Mann „Murat“ lieferte. Der Informant hatte die Gruppierung um Abu Walaa im Auftrag des Landeskriminalamts NRW über ein Jahr ausspioniert. Beinahe wöchentlich lieferte er Berichte aus dem inneren Zirkel der Terrorhelfer.

    Chatverlauf mit französischen Dschihadisten

    Oft begegnete er dem islamistischen Gefährder Anis Amri. Der drängte laut LKA-Vermerken darauf, „hier in Deutschland im Namen Allahs etwas zu machen“. Es sei kein Problem für ihn, prahlte der Tunesier, Waffen in Paris zu besorgen. Zum Beweis zeigte er Murat einen Chatverlauf mit französischen Dschihadisten.

    Obwohl die Ermittlungsakten in dem Fall überquellen mit Hinweisen zu Anschlagsplänen durch Amri, findet sich in der Anklage gegen seine Lehrer und Unterstützer um Abu Walaa kaum ein Wort. Lapidar heißt es da, dass der Terrorist nur einmal eine halbe Stunde mit dem angeklagten Imam aus Hildesheim geplaudert habe.

    Bombenbau-Seminar in Dortmund

    Dabei hielt Amri über Monate hinweg enge Kontakte zu zwei Mitangeklagten aus der Abu-Walaa-Clique: Dabei handelt es sich um Boban S. und Hasan C., den sie den Hoca (Lehrer) nannten. Häufig nahm Amri an ihren Radikalen-Seminaren teil oder übernachtete in ihren Wohnungen. Ende 2015 sollten sie seine Ausreise nach Syrien organisieren. Aber der Plan scheiterte.

    Auch folgte Amri den Fallakten zufolge den Anleitungen des mitangeklagten Boban S. über den Bombenbau. In einer geheimen Koranschule in Dortmund referierte der gelernte Chemie-Ingenieur darüber, mit einfachen Haushaltsmitteln Sprengstoff zu produzieren. Vor dem Hintergrund resümierte das LKA Nordrhein-Westfalen am 22. Februar 2016 in einem Bericht, dass „Anschlagsszenarien“ durch Amri „möglicherweise in Berlin zu erwarten sind“. Diese Einschätzung sollte sich später bewahrheiten.

    Verbindung zum Anschlag auf Essener Sikh-Tempel

    Polizei-Informant „Murat“ berichtete seinem V-Mann-Führer im März 2017, dass Amri Sprengstoffgürtel für ihn und sich selbst besorgen wolle. „Hab sabir“, habe der Tunesier lächelnd gesagt. Übersetzt hieß das: „Hab Geduld“.

    Wie schnell die Angeklagten junge Muslime zu militanten Salafisten ausbildeten, beweist der Fall des Yusuf T.. Laut Anklage erhielt der 17-Jährige seine Gehirnwäsche im Hinterzimmer des Duisburger Reisebüros von Hasan C., dem Hoca. Der Reisemakler folgte dort den Ermittlungen zufolge einem eigenen Curriculum: dem Handbuch des Dschihad.

    Meist trafen sich sieben bis zehn Schüler bei dem Extremisten. Der Jüngste war 14 Jahre alt. Wer am Unterricht teilnehmen wollte, brauchte zwei Bürgen. Stundenlang rezitierte Hasan C. stets dieselben Passagen: Warum man die Ungläubigen meiden solle, warum man sie überall bekämpfen müsse. Sein Dogma war simpel: Wer nicht nach Syrien gehen wollte, solle zumindest in Deutschland Anschläge verüben. Immer wieder spielte der Hoca Gräuelvideos des IS vor. Und gab zum Schluss die Parole aus: „Tötet die Ungläubigen!“

    Bereits Kindern wird der Hass auf Ungläubige eingeimpft

    Yusuf T. hörte interessiert zu. Als er so weit war, reiste er mit seinen Großeltern zu Abu Walaa nach Hildesheim. Im April 2016 verübte der Jungradikale mit zwei Komplizen einen Sprengstoffanschlag auf einen Sikh-Tempel in Essen, bei dem drei Menschen verletzt wurden. Nach dem Attentat bejubelte die Clique um Abu Walaa die Nachricht vom Sprengstoffattentat.

    In einem geheimen Chat rief ein deutscher IS-Kämpfer aus Syrien die Brüder zu Hause dazu auf, den Tempelanschlag als Anlass zu nehmen, wieder zuzuschlagen. Er nannte nach Informationen unserer Redaktion auch eine Adresse: die jüdische Synagoge in Essen.

    Islamisten-Uniform für Dreijährigen

    Hasan C. prahlte im kleinen Kreis, dass Yusuf T. bei ihm in die Schule gegangen sei. Der Junge habe zwar bei der Attacke etwas naiv gehandelt, aber im Kern alles richtig gemacht. Zugleich legte er das Beuteschema des Terrornetzwerks offen: Je jünger, desto besser. „Die Jungen sind Gold wert“, tönte der Hoca, „Sie lassen sich besser formen.“ Formen zum „Gotteskrieger“. Mit dieser Masche soll das Netzwerk acht Rekruten angeworben und in das Kriegsgebiet in der Levante geschleust haben. Weitere elf deutsche IS-Kämpfer standen vor ihrer Ausreise in engem Kontakt mit den angeklagten Gefolgsleuten Abu Walaas. Sechs von ihnen starben laut Anklage im Kampfgebiet.

    Zeugenaussagen belegen, dass die Salafisten-Riege bereits ihren Kindern den Hass auf die Ungläubigen einbläute. Auf einem sichergestellten Handy des Hauptangeklagten Abu Walaa fanden die Staatsschützer ein Foto seines dreijährigen Sohnes: Der kleine Ali posiert beinahe völlig in Schwarz gekleidet. Auf seinem Gürtel blinkt das Symbol des IS.