Berlin. Die neuen Terrorkämpfer sind jünger und radikalisieren sich schneller. Von ihnen geht große Gefahr aus: Denn ihr Ziel ist der Westen.

Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, London und jetzt Manchester. Die Liste der Terroranschläge in Europa ist in den vergangenen zwei Jahren stark gewachsen. Und sie wird weiter wachsen. Niemand rechnet mit einem schnellen Ende der Anschläge durch religiös begründeten Extremismus. Nicht die Bundesregierung, nicht die Sicherheitsbehörden, nicht die Forschung.

Im Gegenteil: „Europa ist Ziel des IS-Terrorismus“, sagt der Präsident des Inlandsgeheimdienstes, Hans-Georg Maaßen, auf dem Symposium des Verfassungsschutzes (BfV) in Berlin. Dieser Satz ist nicht neu, interessant ist aber Maaßens Zusatz: „Dabei ist Deutschland nach unserer Einschätzung vom IS höher priorisiert worden.“ Definieren die Extremisten des „Islamischen Staates“ ihre Strategie neu?

Terrorexperten wie der Franzose Gilles Kepel sprechen längst von einer „dritten Generation“ von Dschihadisten. Zuerst: die Afghanistan-Kämpfer, die in den 1980er-Jahren das Land gegen den Einmarsch der Sowjetunion verteidigten. Dann kamen die stark hierarchisch organisierten Terrorzellen um Osama bin Laden und Aiman az-Zawahiri, die ab 1998 mit gezielten Großanschlägen wie in New York 2001 und Madrid 2004 Gewalt ausübten.

Ziel der neuen Dschihadisten: Hauptsache töten

Seit etwa 2005 – und besonders mit dem Machtzuwachs des IS – agiert die dritte Generation: Die neuen Dschihadisten sind jünger und schneller radikalisiert, sie nutzen die digitalen Medien zur Vernetzung und Propaganda – und der Fokus sei nun, so Kepel in seiner Rede auf dem BfV-Symposium, nicht mehr der Erzfeind Amerika. Sondern die Staaten des nahen Europas.

Dabei sei es jedoch den Extremisten egal, ob sie einen Anschlag auf den Louvre in Paris oder einen Berliner Weihnachtsmarkt verüben: Der Westen und das, wofür er steht, sind das Ziel. Nun aber spricht der Verfassungsschutz von einer Prioritätenliste, auf der Deutschland nach oben rückt.

Die Dschihadisten der dritten Generation folgen nach Ansicht von Experten wie dem Leiter des europäischen Analysezentrums Intcen, Gerhard Conrad, bei aller Willkür und Ideologie auch einer radikalen Logik: Sie wollen so viele Menschen im Westen töten wie möglich. Zur Not mit einfachen Waffen wie einer Axt oder einem Auto. Zur Not auf eigene Faust, ohne Befehl oder Anleitung des IS oder der Terrorgruppe Al-Kaida.

Programmen gegen Extremismus helfen nicht

In den Behörden ist man der Ansicht, dass Deutschland vor allem aus einem Grund bei möglichen Zielen des IS nach oben rückt: weil es schwach sei. Wer mit Sicherheitsleuten spricht, hört mehrere Sorgen: Die Zahl der radikalisierten Jugendlichen ist stark gestiegen und steigt weiter – trotz Programmen gegen Extremismus, trotz Verhaftungen und Gesetzesverschärfungen. Der Verfassungsschutz rechnet inzwischen 10.000 Personen der Salafistenszene zu, aus der ein Großteil der gewaltbereiten Extremisten hervorgeht. Mehr als 1600 Menschen gelten als „islamistisch-terroristisch“. Sie sind häufig hier aufgewachsen, kennen mögliche Ziele und Fluchtwege.

Ein zweiter Grund: Deutschland hat im Vergleich zu anderen EU-Staaten, die durch ihre Macht ein potenzielles Ziel sind, bisher nicht so massiv Polizisten oder gar Soldaten aufgefahren. In Frankreich etwa herrscht seit Monaten Ausnahmezustand, Militär mit Maschinenpistolen bewacht Gebäude, Polizisten rücken wöchentlich zu Razzien aus. Ähnliches gilt nach den schweren Anschlägen für Belgien. Auch Großbritannien hat bereits früh, spätestens nach dem Anschlag 2005 in London, aufgerüstet. Hat das geholfen?

Terror-Organisation IS: Das will der Islamische Staat wirklich

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    Streit um die Befugnisse von Geheimdiensten

    Dass die Leiter von Geheimdiensten und Polizei vor Gefahren warnen und zugleich möglichst weitreichende Überwachungsmaßnahmen und mehr Personal fordern, gehört zur politischen Debatte. Deutlich mehr Beamte arbeiten bereits in den Behörden, Hunderte weitere sollen eingestellt werden. Es geht nicht mehr um Personal, sondern vor allem um die Frage, wie viele Befugnisse Geheimdienste bekommen sollen, wo sie ihre Erkenntnisse speichern und mit wem sie sich darüber austauschen dürfen.

    Maaßen fordert wie zuvor Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mehr Einfluss der Bundesbehörden im Kampf gegen Terroristen. Er spricht von „Zentralstellenfunktion“ seines Amtes bei der Zusammenarbeit mit den Landesämtern für Verfassungsschutz. Maaßen verweist auf die Terroristen, die ebenfalls überregional, sogar global agieren. Der Fall des Berlin-Attentäters Anis Amri zeigt, welche fatalen Folgen es haben kann, wenn Behörden um Zuständigkeiten rangeln. Maaßen verlangt „Sicherheit aus einem Guss“.

    Opposition warnt vor einer „Mammutbehörde“

    Doch die Verteidiger des Sicherheitsföderalismus sind in Deutschland zahlreich – vor allem in der Opposition, aber auch bei der CSU. Linke-Politikerin Martina Renner warnt davor, dass eine „Mammutbehörde“ mehr Schutz vor Anschläge nur vortäusche. Die Fehler und Versäumnisse auch der Bundesbehörden, etwa bei den Ermittlungen in der Mordserie des rechtsterroristischen NSU, hätten dies gezeigt. Länderbehörden seien zudem in der Lage, auf Gefahren durch Extremisten vor Ort schneller zu reagieren.

    Terrorgefahren, die nie ganz zu beherrschen seien, sagt der französische Experte Kepel. Die in Zukunft aber besser zu verhindern seien. Durch bessere Zusammenarbeit der Dienste und den Kampf gegen die IS-Ideologie verstärkt auch im Internet, durch mehr Forschung zum Islamismus und dem Islam und mehr Prävention. Und: Kepel macht unter den radikalisierten Muslimen in Europa mittlerweile auch eine „Dschihad-Müdigkeit“ aus.