Frank Castorf und weitere Theatermacher beschäftigen sich mit dem postkolonialen Erbe

Fast scheint es, als hätten sich alle großen Theaterfestivals abgesprochen. Ob die Theaterformen in Hannover, Tanz im August in Berlin oder das Festival d’Avignon in Südfrankreich, alle setzen derzeit auf ein Thema, das auch Fördergelder fließen lässt: das postkoloniale Erbe. Vor allem Theaterschaffende und Choreografen aus dem Kongo fanden im Zuge dessen den Weg auf die Festivalbühne, um ihre Geschichten zu erzählen.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass der aktuelle Diskurs die kolonialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse als Teil der Geschichte des Kapitalismus und der Globalisierung betrachtet. Ein Themenfestival wie die Lessingtage, das sich dem Komplex der Interkultur verschrieben hat, bietet da zahlreiche Anknüpfungspunkte. In der Rolle der Belgier im Kongo hat auch Volksbühnen-Chef Frank Castorf nach dem Stalinismus ein neues Betätigungsfeld für seine Weltschmerzen gefunden, an dem er sich gewohnt postdramatisch ausufernd abarbeitet.

Für das Münchner Residenztheater hat er Louis-Ferdinand Célines finsteren Roman „Reise ans Ende der Nacht“ inszeniert und gastiert mit der Produktion nach 13 Jahren zum ersten Mal wieder in Hamburg. Céline sendet in dem Roman 1932 einen zynischen Arzt durch das Schlachthaus des Ersten Weltkriegs. Bühnenbildner Aleksandar Denic findet für die Schauplätze zwischen afrikanischem Dschungel, New York, Detroit und Paris eine verschachtelte Bretterlandschaft. Bibiana Beglau, Ex-Thalia-Ensemblemitglied, gibt den vom Ersten Weltkrieg traumatisierten Arzt der Armen in einer Hosenrolle mit Schnurrbart als einen von Feigheit und Opportunismus Getriebenen.

Castorf montiert Episoden des 700 Seiten starken Romans radikal um. Die Geschichte lässt den Helden Ferdinand Bardamu vor dem Ersten Weltkrieg ins koloniale Afrika entfliehen, wo er an Malaria erkrankt, als Ruderer auf einem Schiff nach Amerika entkommt, durch die Straßen New Yorks streift, an den Fließbändern Detroits anheuert, bis er schließlich als Armenarzt in der Vorstadt von Paris landet. Weite Teile der Inszenierung werden als Live-Film projiziert. Heiner Müllers Revolutionsstück „Auftrag“ erklingt als Video-Voodoo-Duett. Castorfs Suche mag eine eher turbulente Analyse sein, aber sie dürfte das Gefühl existenzieller Verlorenheit treffen. Natürlich streut er Anspielungen an den Antisemitismus der letzten Jahre Célines, wie auch an den Faschismus der westeuropäischen Kolonialherren.

Mit seinen Wurzeln in Burkina Faso setzt sich der französische Regisseur und Intendant des Théâtre Nanterre-Amandiers in Paris, Jean-Louis Martinelli, auseinander. In „Eine Nacht im Präsidentenpalast“ kreiert er anhand von Sissakos Film „Bamako“ eine Farce über die wirtschaftliche Realität Afrikas mit ihren unrühmlichen Zutaten Schulden, Korruption, Prostitution.

Das Thema Postkolonialismus ist auch präsent – ungewöhnlich – in gleich zwei Tanzproduktionen. Der in Frankreich geborene Choreograf Abou Lagraa hat mit dem Ballet Contemporain d’Alger die erste zeitgenössische Tanzkompanie in Algerien zusammengestellt. In „NYA“ konfrontiert Lagraa das französische Nationalheiligtum, Ravels „Boléro“, mit sakralen Gesängen vom afrikanischen Kontinent. Akram Khan wiederum, Brite mit Vorfahren in Bangladesch, widmet sich in seinem Solo „DESH“ dem Komplex Land, Nation, Heimat. Khans Markenzeichen ist die Kreuzung zeitgenössischer europäischer Tanzformen mit dem traditionellen, spirituell aufgeladenen nordindischen Tanzstil des Kathak. Ein gern gesehener Gast in der internationalen Festivalszene, hat Khan zuletzt die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in London 2012 choreografiert.

„Reise ans Ende der Nacht“ 25.1., 19.00, 26.1., 18.00, Thalia Theater, Alstertor; „Eine Nacht im Präsidentenpalast“ 25.1., 20.00, 26.1., 19.00, Kampnagel, Jarrestraße 20-24; Abou Lagraa: „NYA“, 28.1., 20.00, Thalia Theater, Alstertor; Akram Khan: „DESH“ 7./8.2., jew. 20.00, Thalia Theater, Alstertor