Sankt Petersburg. Frankreichs Mittelfeldstratege vom FC Chelsea ist nicht nur ein Wellenbrecher. Sein Wert für die Mannschaft ist unermesslich.

In einer so genannten „Tactical Line-up“, der taktischen Aufstellung, die vor einem WM-Spiel die Runde machen, bietet sich bei der französischen Nationalmannschaft ein sehr gewohntes Bild. Abgebildet ist stets ein 4-3-3-System, bei dem am Anstoßkreis der schwarze Punkt mit der Nummer 13 auftaucht. Das steht so unverrückbar auf dem Papier wie der Eifelturm in Paris. Denn dort hält sich die heimliche Machtzentrale der Équipe Tricolore auf. Gestatten: N’Golo Kanté.

Zwar laut Startliste nur 168 Zentimeter groß, aber die überragende Figur. Sein Trainer Didier Deschamps hat einmal gesagt: „N’Golo Kanté ist auf seiner Position der beste Spieler der Welt.“ Mittlerweile wirkt die Huldigung nicht mal übertrieben. Es gibt in der Spielfeldmitte bei der WM keinen Besseren als den Profi vom FC Chelsea, über den Arsene Wenger so urteilte: „Er trifft ständig simple Entscheidungen und macht das Spiel nie zu kompliziert. Er ist der einflussreichste Mittelfeldspieler, den ich je habe Fußball spielen gesehen.“ Und der ewige Arsenal-Teammanager hat viele gesehen.

Deschamps hat sich zuletzt in St. Petersburg noch einmal ausführlich über das Kraftpaket im Kraftzentrum auslassen dürfen, und der Sélectionneur schien fast froh über diese Fachfrage: „Er hat bei uns eine ganz wichtige Rolle und oft bekommt er noch eine besondere Aufgabe: Er ist derjenige, der Lionel Messi gestoppt hat.“ Im Achtelfinale gegen Argentinien wirkte der Weltstar so verloren wie Kevin De Bruyne am Dienstag im Halbfinale gegen Belgien. Und wenn Frankreich das Finale gegen Kroatien am Sonntag gewinnen will, dann muss sich auch bitte Luka Modric in jenem von Kanté geknüpften Spinnennetz verfangen.

Sage und schreibe 58 Bälle hat der tüchtige Abräumer bereits instinktsicher erobert, niemand klaut häufiger das Spielgerät von der Gegenseite. Nur dreimal musste Kanté dafür in ein Tackling gehen, meist sieht er nämlich den Spielzug voraus und spritzt einfach dazwischen. Fehlte nur noch, er würde sich dazu einen feixen. Sein Wert erschließt sich Betrachtern, die nicht nur einen keinen Ausschnitt am Fernseher, sondern das große Ganze im Stadion ausspähen. Und dann wird aus ihm mehr als ein Liebling der Taktikexperten.

Um diese Wertschätzung zu erreichen, hat es beim 27-Jährigen ein bisschen Anlauf gebraucht. Er wuchs als eines von neun Kindern einer aus Mali stammenden Familie in der Banlieue von Paris auf. Sein Vater arbeitete als Müllmann, die Mutter als Putzfrau, und als N’Golo Kanté elf Jahre war, starb der Papa. An den verschiedenen Akademien wollten sie den kleinen, armen Kerl zunächst nicht haben. Er sei nicht stark genug, hieß es. Aber da hatte er sich längst in den Kopf gesetzt, Fußballer zu werden. Noch immer gilt der gläubige Muslim als scheuer, stiller und bescheidener Vertreter, der nach einem WM-Spiel den anderen das Reden überlässt.

Dabei wird der Wellenbrecher nun immer häufiger gelobt. „Ihn zu haben, ist wie zu zwölft zu spielen“, meinte kürzlich Mittelstürmer Olivier Giroud. Mittelfeldspieler Paul Pogba nannte ihn den Mann „mit den 15 Lungen“. Im Halbfinale schrubbte der beste Raumverdichter exakt 11,124 Kilometer, während der Teamdurchschnitt bei 9,762 Kilometer lag. Nicht nur seine Distanzen sind größer, auch seine Intensitäten sind höher. Beispielsweise lässt Kanté das Zuckeltrab-Tempo fast völlig weg.

Laufen, würden nun Kritiker sagen, kann jeder. Aber er spielt auch noch einen richtig guten, weil sicheren Ball: In seinen sechs WM-Spielen hat der Allesmacher 317 seiner 351 Pässe zum Mitspieler gebracht. Kurzpässe waren in Russland bislang übrigens nur 80 dabei, dafür 23 lange Zuspiele. Kanté ist das, was Deschamps 1998 für die französische Mannschaft war: ihr kraftvolles Herz. So führt, wenn es zwei Jahrzehnte später mit dem zweiten Weltmeistertitel klappen soll, kein Weg an dem Brückenschlag dieser beiden Ordnungsliebhaber vorbei.

Es ist davon auszugehen, dass im Fall des Falles der General Deschamps als einem der ersten seinem Soldaten Kanté gratulieren würde. Und noch einmal Abbitte für seinen größten Irrtum leistet: nämlich auf ihn im EM-Finale 2016 gegen Portugal zu verzichten, nachdem die taktische Umstellung im Halbfinale gegen Deutschland zuvor komischerweise aufgegangen war. Seit dem verloren Endspiel in Paris ist der 30-fache Nationalspieler gesetzt. Und taucht auf dem Aufstellungsbogen zuverlässig als schwarzer Punkt mit der Nummer 13 am Anstoßkreis auf.