Moskau. Nach dem verlorenen WM-Halbfinale kehrt die Zuversicht schnell zurück. Trainer Southgate setzt auf junge Talente.

Als feststand, dass der Fußball wider Erwarten nicht auf die Britischen Inseln heimkehren würden, beschlossen die englischen Fans, auch erst einmal da zu bleiben. Mehr als eine Stunde nach Spielschluss sangen sie „We’re not going home”, und in den Augen der russischen Stadionwärter sah man zunehmend die Sorge, dass die vielen Männer in Weiß und Rot – soweit noch bekleidet – diese Drohung wörtlich meinen könnten.

Doch dann erschien Gareth Southgate zum zweiten Mal auf dem Rasen, um sich zum zweiten Mal lauten Applaus und Dank abzuholen. Der emotionale Abschied des 47-Jährigen markierte den offiziellen Schlusspunkt der Vorstellung. Das Spiel um Platz drei gegen Belgien am Samstag dürfte zur ungewollten Zugabe werden, wahrscheinlich mit der Coverbesetzung. Der Blick ging nach dem 1:2 gegen Kroatien weit nach vorn – auf die Frage, was künftig von diesem englischen Sommernachtstraum übrig bleiben wird.

Southgate wird nach dem überraschenden Glück der vergangenen Wochen tatsächlich als großer Versöhnungstrainer in die Geschichte eingehen. Er hat nach Jahren der gegenseitigen Entfremdung Medien und Mannschaft, Mannschaft und Fans wieder zusammengeführt. Seine Demut, sein Enthusiasmus übertrug sich auf ein Team, das aus sehr wenig sehr viel machte, sich mit Glück und Geschick in ungewohnte Turnier-Gefilde kämpfte und das protzige Gehabe und die stümperhaften Leistungen der Vorgänger vergessen ließ.

Freudloser Mourinho

„Es tut weh, aber wir sind alle sehr stolz auf uns”, tröstete sich Kapitän Harry Kane, „es ist schön zu sehen, dass die Fans das England-Trikot wieder mit Stolz tragen können.“

„Danke Boss: Du hast den Glauben und die Liebe an den Fußball zurückgebracht”, teilte Manchester Uniteds Marcus Rashford rührend auf Twitter mit. Dem 20-Jährigen waren beide Dinge unter dem freudlosen Ergebnisfetischisten José Mourinho im Verein zuletzt etwas abhanden gekommen.

Southgates Team hat „Barrieren eingerissen“, wie der Trainer am Vorabend des Halbfinals betont hatte. England muss in den nächsten Turnieren kein Elfmeter-Trauma bewältigen und auch keine Angst haben, dass der Torhüter (Evertons Jordan Pickford) sich zur Unzeit die Bälle ins Netz legt.

Nicht wieder 28 Jahre warten

Kanes Selbstbewusstsein wirkte nicht gespielt, als der 24-Jährige davon sprach, dass seine junge Elf nun „auf den Geschmack” gekommen sei, dass man alles dafür tun werde, um „nicht wieder 28 Jahre bis zum nächsten WM-Halbfinale warten” zu müssen.

Stammspieler wie Harry Kane und Dele Alli dürften dann mehr Erfahrungen in großen Champions-League-K.-o.-Spielen gesammelt haben. Interessante Spieler wie Ryan Sessegnon (FC Fulham, 18), Phil Foden (Manchester City, 18), Borussia Dortmunds Jadon Sancho (18) und ein halbes Dutzend weiterer Talente werden die qualitative Substanz verbessern.

Zum Selbstläufer wird Englands Fußballrenaissance trotz des positiven Momentums nicht werden. In drei Wochen, wenn die Premier League wieder beginnt, werden sich viele Fans bei aller Liebe darauf besinnen, dass ihnen die Vereinsjacke doch näher als die England-Shorts sind; Zuschauer und Trainer werden ob der ungeheuren Finanzkraft der Klubs schnell wieder nach den allerbesten Profis rufen, nicht unbedingt nach dem heimischen Nachwuchs.

Die Jung-Löwen haben es im Vergleich mit anderen Topligen weit schwerer, in der zu zwei Dritteln mit Ausländern besetzten Premier League zu geregelten Spielzeiten zu kommen. Der Entwicklungsstillstand bei Marcus Rashford bei United verdeutlicht die mangelnde Geduld und Akzeptanz.