Sankt Petersburg. Durch ein spätes Tor hat Argentinien das WM-Aus so eben noch abgewendet. Und auch der größte Held der Vergangenheit sorgt für Dramatik.

Russland ist ein Land mit Vorschriften. Wenn ein Stadion schließt, dann schließt es, zumal wenn auch noch der gleichfalls regulierungsfreudige Weltverband Fifa beteiligt ist. Nur gegen die argentinischen Fans hat nicht mal Russland eine Chance. Auf Englisch und Spanisch waren sie am Dienstagabend schon mehrfach zum Verlassen der Krestovski-Arena aufgerufen worden, das Spiel war seit über einer Stunde vorüber. Aber viele standen immer noch da und sangen.

Der unter Extrembedingungen erstrittene 2:1 gegen Nigeria qualifizierte sich auf Anhieb als historische Nacht des argentinischen Fußballs. So unerklärlich, wie die Generation um Lionel Messi bei WM und Südamerikameisterschaft drei Finals in Folge verlieren konnte – zweimal im Elfmeterschießen, einmal nach Verlängerung –, so wundersam gelang ihr nun durch ein Tor von Verteidiger Marcos Rojo in der 86. Minute die Befreiung aus einem Gestrüpp von Zweifeln, Vorwürfen und Enttäuschungen, das unweigerlich auf die Katastrophe zuzusteuern schien, als ein kleinlicher Elfmeter zu Nigerias 1:1-Ausgleich gepfiffen wurde. Stattdessen geht es nun am Samstag im Achtelfinale gegen Frankreich. Argentinien hat mehr Leben als eine Katze.

„Wahnsinn, was wir gelitten haben“, sagte Lionel Messi später: „Ich wusste, dass uns Gott nicht ausschieden lassen würde.“ Später beseelte er noch einen TV-Journalisten, als er ihm ein rotes Bändchen zeigte, dass ihm dieser nach dem verschossenen Island-Spiel geschenkt hatte, als Glücksbringer „gegen die Neider“. Messi trug es am rechten Fuß, dem schwächeren, mit dem er das Tor geschossen hatte. Spätnachts beendete er sein emotionales WM-Coming-Out mit einer Botschaft an seine Community: „Danke an Gott für diese Freude und Euch für eure wunderbare Verrücktheit in jedem Spiel. Es gibt nichts Schöneres als Argentinier zu sein, im Guten wie im Schlechten.“

Komplettes Drama

Zumindest führt keine Nation bei dieser WM ein so komplettes Drama auf. Es gibt Blut wie bei Javier Mascherano, der das Stadion mit dickem Pflaster an der linken Augenbraue verließ. Es gibt Intrigen über die Macht der Spieler um Messi, den Trainer Sampaoli kurz vor Schluss fragte: „Soll ich Agüero bringen?“. Es gibt jede Menge Pathos. Und dann gibt es noch Diego Maradona.

Die Mannschaft interessiert der große Anführer von Argentiniens letztem WM-Titel 1986 und Trainer vieler Spieler bei der WM 2010 nicht mehr allzu sehr. Sein Angebot, in den Krisentagen vor dem Nigeria-Spiel für eine Motivationsansprache im Teamquartier vorbeizuschauen, wurde jedenfalls nicht angenommen. Aber die Show in Sankt Petersburg, die sollte trotzdem nicht ohne ihn stattfinden.

Tanz mit einer Besucherin

Als er erstmals auf der Stadionleinwand eingeblendet wurde, gab es von den argentinischen Fans, die zuvor den Namen von Messi bejubelt und den von Sampaoli ausgebuht hatten, freundlichen Applaus. Maradona winkte einmal und fing dann an mit einer nigerianischen Besucherin zu tanzen, dicker Hintern an dickem Hintern. Das war ein bisschen lustig und vielleicht auch ein bisschen peinlich. Für Voyeure ist Maradona das Spektakel dieses Turniers. Für die Argentinier wird er immer ein unvergleichlicher Held bleiben. Schon deshalb können sie sich über ihn nicht so einfach amüsieren. Die Fans nahmen die Bilder vom Tanz halt so zur Kenntnis.

Maradona blieb im Fokus der Kameras. Nach Messis Tor blickte er in den Himmel und schien mit den Fußballgöttern zu sprechen. Einmal zog er sein blaues T-Shirt hoch, dann dämmerte er kurz weg, zum Ende zeigte er vulgäre Gesten und zwischendrin umarmte er sich mit seinem Ex-Agenten Guillermo Coppola, mit dem er sich 2003 zerstritten hatte; seither war man sich nur bei der Beerdigung von Maradonas Vater begegnet.

Krankenhaus-Aufenthalt dementiert

Wann es Diego selbst erwischen wird, diese Frage stellte sich am Dienstag auch mal wieder, nachdem ihn mehrere Personen beim Verlassen der Tribüne stützten mussten. Zunächst hieß es danach, er sei in ein Petersburger Krankenhaus eingeliefert worden. In seinem täglichen Fernsehtalk „De la mano del diez“, den wie schon vor vier Jahren das venezolanische Fernsehen produziert, tauchte er nicht auf. Doch aus seiner Entourage wurde die vermeintliche Einlieferung schnell dementiert, eine befreundete Journalistin berichtete in der Nacht, dass er sich planmäßig auf dem Rückflug nach Moskau befinde. Dort werde er am nächste Tag auch wieder im TV-Studio sein, informierte Talkpartner Victor Hugo Morales, einst Kommentator seiner legendären Tore von 1986.

Maradona beruhigte später seine Freundin mit dem Argument, in seiner Stadionloge habe es nur Weißwein gegeben. Und klar, den habe man halt komplett geleert. In der Halbzeit hätte ihm der Nacken geschmerzt und ein Arzt sagte nach einer Untersuchung, er solle lieber gehen. „Aber ich wollte bleiben, wo doch für uns alles auf dem Spiel stand“, schrieb er seinen Fans. „Wie hätte ich gehen können? Küsschen an alle, entschuldigt den Schrecken und danke fürs Aushalten: Diego bleibt noch!“ Auch dieses Finale ist bekannt: Maradona hat mindestens so viele Leben wie Argentinien.