Kasan. Joshua Kimmich ist ein Spieler, der sich Gedanken macht. Nach der Weltmeisterschaft dürfte dem Münchner eine neue Rolle zuteil werden.

Vor jedem Spiel ist Joshua Kimmich angespannt. Das ist in der deutschen Nationalelf aufgefallen. Und das hat dazu geführt, dass Toni Kroos neulich allen Einlaufkindern der Welt empfohlen hat, sich fern zu halten von diesem Kimmich. Sich auf keinen Fall vom 23-Jährigen auf den Rasen führen zu lassen. Der sei vor dem Anpfiff in einem Privattunnel, in dem nur Platz ist für Gedanken über das Spiel, den Gegner und sich selbst.

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    Kimmich studiert sich und den Gegner per App

    Das war ein bisschen gemein. Aber es stimmte auch. Joshua Kimmich ist ein Spieler, der sich Gedanken macht – über das Spiel, den Gegner und vor allem über sich selbst.

    Wenn an diesem Mittwoch irgendein armes Einlaufkind an seiner Hand auf den Rasen geführt wird, bevor die dritte deutsche WM-Partie gegen Südkorea in Kasan beginnt (16 Uhr/ARD), dann hat Kimmich schon allerhand Gedankenarbeit verrichtet.

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    Er hat auf seinem Hotelzimmer gesessen und sich Spielszenen angesehen. Das geht heute einfach. Der DFB bietet eine App für das Smartphone oder das iPad, in der sich der Spieler alle Situationen der eigenen Partien, aber auch der des Gegners anschauen kann.

    Kimmich interessieren vor allem die, in denen er nicht gut aussieht. Das unterscheidet ihn von den meisten. „Ich beschäftige mich mit meinem eigenen Spiel“, sagt der Rechtsverteidiger, „Es ist die Basis, sich selbst zu verbessern, wenn man seine Schwächen analysiert.“

    Gegen Mexiko entblößt

    Hat Kimmich seine Szenen aus WM-Spiel eins gegen Mexiko (0:1) und Partie zwei gegen Schweden (2:1) verglichen, dürfte ihm aufgefallen sein, dass es im letzteren viel weniger gegeben hat, in denen er schlecht aussah. Kimmich hat sich gesteigert. Auch das ist ein Grund, warum der Weltmeister überhaupt noch im Turnier ist.

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    Gegen Mexiko entblößten seine vielen Angriffsläufe die rechte Seite. Das sorgte dafür, dass Deutschland mächtig Schlagseite bekam. Dass die Havarie vorerst abgewendet werden konnte, lag auch daran, dass sich Kimmich gegen Schweden disziplinierte. Er machte immer noch viele Läufe nach vorn, aber er vergaß nicht, wieder zurück zu laufen. Das wirkte alles durchdachter.

    An Kimmich lässt sich eine der großen Herausforderung bei dieser WM für das deutsche Spiel erkennen: Der Rechtsverteidiger steht für die Suche nach der Balance zwischen einem Offensivdrang, der die Grundidentität dieser Elf bestimmt, und defensiven Notwendigkeiten, die es nun mal zu beachten gilt, wenn man Weltmeister bleiben will. Sturm und Zwang, dazwischen liegt der Weg zum Erfolg.

    Außenverteidiger sind die neuen Spielmacher

    Kimmich wird immer mit Philipp Lahm verglichen, dessen Nachlass er beim FC Bayern und in der Nationalelf verwaltet. Auch das ist gemein – und es ist falsch. Kimmich ist ein anderer Rechtsverteidiger als es Lahm sein musste. Er ist ein Außenverteidiger-Flügelstürmer-Hybrid und das macht seine Position zur anspruchsvollsten im modernen Fußball.

    Außenverteidiger sind die neuen Spielmacher, das ist eine Auffassung in der Branche. Aber Kimmich muss auch Spielverderber sein, wenn der Gegner seines aufzieht. „In erster Linie liegt meine Aufgabe darin, Rechtsverteidiger zu sein“, sagt er, „aber es wird von mir auch verlangt, dass ich mich vorn einschalte.“ Das sei die Schwierigkeit: „Dass man neben dem Offensivdrang auch noch verteidigen muss“, sagt Kimmich.

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    Kimmich sorgt trotz Verbesserung dafür, dass die Nationalelf Schlagseite hat. Ihr Spiel ist rechtslastig, auch wenn gegen Schweden beide Tore über links entstanden. Das hat mit der Unterschiedlichkeit der beiden Außenverteidiger zu tun. Beide sind zwar gelernte, zentrale Mittelfeldspieler. Doch während man aus Linksverteidiger Jonas Hector den Zug in die Mitte nicht rauskriegt, hat sich Kimmich an die Flügelrolle adaptiert.

    „Seine große Stärke ist, dass er sich anpassen kann.“ Das sagte Lahm im Interview mit dieser Zeitung, und das ist für einen wie ihn schon ein fast überschwängliches Lob. Gegen Schweden schlug Kimmich zwölf Flanken, Hector nur drei. Die gesamte deutsche Restmannschaft von 13 Spielern inklusive Hector kam insgesamt nur auf 17 Hereingaben.

    Kimmich muss ein Anführer werden

    Kimmich ist paradoxer Weise der einzige klassische Außenstürmer, den dieses Team nach der Nichtberücksichtigung von Leroy Sané noch hat. Aber er muss eben auch mehr sein. Ein klassischer Außenverteidiger, wenn es die Situation erfordert.

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    Nach der WM muss Kimmich wohl noch mehr als das sein. Ihm wird zugetraut, Anführer zu werden, wenn die aktuellen Autoritäten irgendwann abtreten. Toni Kroos hat das erkannt und er konnte das sogar nett formulieren: „Josh ist prädestiniert, in den nächsten Jahren Führungsspieler zu sein und ein Weltklassespieler zu werden“, sagte Kroos. Es ist die Eigenschaft, Gedankenarbeit zu verrichten, die Kimmich zur Führungskraft tauglich macht.

    Bei Bundestrainer Joachim Löw ist er schon unersetzlich. Sein Stern in der Nationalelf ging in der dritten Vorrundenpartie bei der EM 2016 gegen Nordirland auf. Seitdem hat Kimmich 29 von 30 darauffolgenden Länderspielen bestritten. Nun soll er helfen, dass die dritte Vorrundenpartie gegen Südkorea nicht das letzte deutsche Spiel bei dieser WM ist.