Doha. 1,5 Milliarden Menschen hoffen auf einen Sieg der Marokkaner im WM-Viertelfinale. Gegen Portugal könnten sie Geschichte schreiben.

Ein bisschen ist es mit Marokkos Fußball-Nationalmannschaft wie mit dem Gassengewirr der marokkanischen Millionenstadt Fès. Man findet als Besucher vielleicht hinein, aber kaum mehr heraus. In den verwinkelten und sehr engen Wegen des Souks der Medina, des Marktes der Altstadt, wird man vom Hämmern der Handwerker, den Gerüchen der Gewürze und Gerbereien sowie von den sich durchzwängenden Packeseln verwirrt. So ähnlich ergeht es bei der WM in Katar bisher auch den Gegnern, wenn sie in Marokkos Defensive einzudringen versuchen. Entweder sie schaffen das gar nicht erst. Oder wenn doch, dann verirren sie sich dort und landen in einer Sackgasse.

An diesem Samstag (16 Uhr/ZDF und Magenta TV) trifft Marokko im WM-Viertelfinale auf Portugal. Für das nordafrikanische Land ist es das bisher größte Spiel auf der Weltbühne des Fußballs. Arabiens beste Mannschaft der WM-Geschichte sind sie schon geworden durch den sensationellen Einzug in die Runde der letzten Acht dank des 3:0 im Elfmeterschießen gegen Spanien. Afrikas beste Mannschaft wollen sie nun werden. Erst drei Mannschaften des Kontinents hatten es vor ihnen bei einer WM ins Viertelfinale geschafft. Nach Kamerun bei der WM 1990 in Italien waren das Senegal beim Turnier 2002 in Japan und Südkorea und Ghana 2010 in Südafrika. Im Halbfinale aber stand noch kein Team aus Afrika. Marokko könnte bei dieser WM in Katar also erneut Geschichte schreiben und damit auch seine ohnehin schon besondere Erzählung fortsetzen, die einem Märchen gleicht.

Marokko mit besonderem Teamgeist

Trainer Walid Regragui (47) übernahm die Mannschaft erst im August und schuf einen besonderen Teamgeist. Er integrierte umgehend wieder Hakim Ziyech, den Offensivspieler vom FC Chelsea und aktuell besten Kicker Marokkos, sowie Linksverteidiger Noussair Mazraoui vom FC Bayern. Beide waren von Marokkos vorherigem Nationalcoach, dem Bosnier Vahid Halilhodzic, vergrätzt worden. Zudem legte Regragui die Basis für ein neues Miteinander, indem er die Debatte um die Herkunft der Nationalspieler beendete. Zwölf von ihnen sind in Marokko geboren. Torwart Yassine Bounou, genannt Bono, kam in Kanada zur Welt. Die weiteren 13 Kadermitglieder in Europa, in Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Italien. Viele besitzen zwei Pässe. Doch Regragui, selbst nahe Paris geboren und aufgewachsen, hält solchen Identitätsdebatten entgegen, dass er selbst das beste Beispiel für die fruchtbaren Einflüsse aus verschiedenen Kulturen sei. „Keiner kann mir mein marokkanisches Herz nehmen“, sagt er, „es geht nicht um den Pass, sondern um Kompetenz.“

Gruppenerster ist die Mannschaft geworden. Vor Kroatien, dem WM-Zweiten von 2018, und den Belgiern, gegen die Marokko 2:0 gewonnen hatte. Im Achtelfinale gegen Spanien blieb Regraguis nahezu perfekt organisierte Defensive erneut ohne Gegentor, wie eigentlich während des gesamten Turniers. Keiner der vier bisherigen Gegner hatten gegen Marokko getroffen. Der einzige Gegentreffer resultierte aus einem Eigentor beim 2:1 gegen Kanada. Durch den Einzug ins Viertelfinale ist Regragui bereits Afrikas erfolgreichster WM-Trainer.

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Nun also Portugal, das sich im Achtelfinale mit dem 6:1 gegen die Schweiz weitgehend ohne Cristiano Ronaldo freigespielt hatte. Trotzdem hoffen die Marokkaner auf ihren nächsten Coup, gerade wegen ihrer herausragenden Defensive. Allerdings waren nach dem Sieg gegen Spanien beide Innenverteidiger angeschlagen, sowohl Kapitän Romain Saiss von Besiktas Istanbul als auch Nayef Aguerd von West Ham United. Zusammen mit Rechtsverteidiger Achraf Hakimi, früher bei Borussia Dortmund und nun bei Paris Saint-Germain, sowie Mazraoui bildeten sie bisher die beste Abwehrkette der WM. Ob sie gegen Portugal in dieser Konstellation auflaufen können, ist offen.

Amrabat vom AC Florenz sticht heraus

Ganz besonders kommt es auch auf den defensiven Mittelfeldspieler Sofyan Amrabat, 26, vom AC Florenz an. Der alleinige Sechser mit der Nummer vier und der markanten Glatze, geboren und aufgewachsen in den Niederlanden, überzeugte bisher mit seiner enormen Laufstärke und Einsatzbereitschaft. Mehrere Topklubs sollen Interesse an Amrabat zeigen, darunter auch Jürgen Klopps FC Liverpool. Mit diesem soll sogar schon ein Austausch stattgefunden haben. Gegen Spanien hatte Amrabat vor der Abwehrkette wieder für zwei geschuftet, wie in allen vier Partien über die gesamte Spieldauer. Er ist nicht nur stets zur Stelle, wenn Gefahr droht. Er schafft es auch noch, sich spielerisch einzubringen und Konter einzuleiten über Ziyech oder Sofiane Boufal, den anderen technisch versierten und flinken Flügelspieler.

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So stellen sie sich das auch jetzt wieder vor gegen Portugal. Viele der mehr als 1,5 Milliarden Menschen im arabischen Raum und in Afrika, die die Marokkaner nun bei der WM repräsentieren, drücken ihnen die Daumen, dass es etwas wird mit dem nächsten, noch größeren Coup. Und auch im Rest der Welt, allen voran in Europa, hat dieser Underdog, dieser krasse Außenseiter, viele Fans gefunden. Wie der Souk mit dem Gassengewirr in der Medina von Fès.